Subjektive Theorien sind handlungsleitend
Die häufige Gegenüberstellung, ja Abgrenzung von Theorie und Praxis ist wenig nützlich, Theorie und Praxis sind nur scheinbar ein Gegensatz. Zum einen sind Absicht, Entwicklung und Verifizierung jeder wissenschaftlichen Theorie auf eine Praxis bezogen, und zum andern «gibt es kein Alltagshandeln und damit eben auch keine Praxis ohne Theorie: Auch der Alltagsmensch – und damit auch die Alltagslehrperson [Anm. d. V.] – handelt auf der Basis von (subjektiven) Theorien. Er besitzt und benutzt mehr oder minder differenzierte Konzeptsysteme über seine Umwelt und über sich selbst» (Dann 1994).
Bezogen auf das berufliche Handeln von Lehrpersonen, bedeutet dies, dass sie über subjektive Theorien als verdichtete Erfahrung und kumuliertes Wissen verfügen, auf die sie bei der Planung und der Durchführung von Unterricht und beim Nachdenken darüber zurückgreifen.
Was sind denn subjektive Theorien?
In Anlehnung an Dann (1994) können subjektive Theorien wie folgt umschrieben werden:
•Subjektive Theorien sind relativ stabile und strukturierte Kognitionen zur Selbst- und Weltsicht.
•Sie sind teilweise implizit («Selbstverständlichkeiten» und unreflektierte Überzeugungen), teilweise dem Bewusstsein der Handelnden zugänglich.
•Ähnlich wie wissenschaftliche Theorien enthalten subjektive Theorien eine zumindest implizite Argumentationsstruktur (zum Beispiel Wenn-dann-Beziehung) und haben die Funktionen der Situationsdefinition, der Erklärung, der Vorhersage von Ereignissen, der Entwicklung von Handlungsentwürfen und Plänen.
•Darüber hinaus sind subjektive Theorien direkt situativ handlungssteuernd. Zusammen mit anderen Faktoren (z. B. emotionalen) beeinflussen sie so das beobachtbare Verhalten im Rahmen zielgerichteten (Berufs-)Handelns.
Subjektive Theorien steuern auch unbewusst
Die zentralen Berufssituationen von Lehrpersonen, also Unterrichtssituationen, sind hochkomplex, mehrdimensional und mehrdeutig, zum Teil unvorhersehbar und höchst dynamisch.
Ob in diesen dynamischen und komplexen Situationen differenzierte Theoriebestände für bewusste handlungsbezogene Kognitionen verfügbar gemacht werden können, sei hier zumindest infrage gestellt. Wahl (1995) stellt fest, dass es der Lehrperson möglich sein muss, «Situationen sekundenschnell zu identifizieren […] und wirksame Handlungsweisen blitzschnell auszuwählen. […] Wie empirische Untersuchungen zeigen, sind die Prozesse der Situations- und Handlungsauffassung so eng miteinander verbunden, dass die Lehrperson mit der Wahrnehmung der Situation zugleich die besten Lösungsmöglichkeiten sieht.»
Diese auf die aktuelle Situation bezogenen «besten Lösungsmöglichkeiten» stellen nur noch einen Bruchteil des gesamten Theorie- und Erfahrungswissens dar. Nach den Untersuchungen von Wahl «werden pro Situationstyp in der Regel zwischen einer und sechs typischen, das heißt bewährten Lösungen bereitgehalten. Als mathematischer Durchschnittswert ergibt sich 1,502, das heißt, dass pro ‹typische› Situation durchschnittlich ein bis zwei ‹typische› Reaktionen bereitgehalten werden» (ebd.).
Immer noch: Die wirksamste Lehrer- und Lehrerinnenbildung ist die eigene Lernbiografie
Drei bis vier Jahren formaler Ausbildung von Lehrpersonen oder Dozentinnen und Dozenten stehen etwa sechzehn bis zwanzig Jahre Sozialisation in Bildungseinrichtungen gegenüber.
Lehrpersonen lernen das Lehren als Lernende in etwa 18 000 Lektionen. Dabei wird ihre subjektive Theorie zu Lehren aufgebaut. So verwundert es nicht, dass die wohl wirksamste Lehrerinnen- und Lehrerbildung die eigene Lernbiografie ist.
In ihrem Handeln greifen Lehrpersonen also nicht nur auf Wissens- und Erfahrungsbestände zurück, die sie in ihrer Aus- und Weiterbildung erworben haben. Gerade in dynamischen und hochkomplexen Situationen basieren die Reaktionsscripts auf alten und bewährten Mustern, die im Laufe ihrer gesamten Bildungssozialisation aufgebaut wurden. Das hat zur Folge, dass die angewendeten Handlungsscripts oft nicht mit der bewussten Planungsabsicht und den Erklärungs- und Deutungsansätzen übereinstimmen. […]
Lernen ist nicht Reflex, sondern Reflexion: Die Verbindung von Aktion und Reflexion
In Anlehnung an die zentrale These des brasilianischen Pädagogen Paolo Freire (1996) wird Veränderung und damit auch Lernen nur wirksam in der Verbindung von Aktion und Reflexion. Lernen – und damit auch das Lernen zu lehren – ist damit nicht Reflex, sondern Reflexion.
Auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler heißt dies, dass besinnungsloses Anhäufen von Wissen ohne situativen Bezug, ohne Be-Deutung, ohne Nach-Denken, ohne intersubjektiven Diskurs wirkungslos bleibt.
Auf der Ebene des Lernens der Lehrpersonen, also in Bezug auf unsere Weiterentwicklung, bedeutet dies, dass in der subjektiven Theorie gefestigte Prinzipien, bewährte Rezepte, automatisiertes Handeln, «1,5 Reaktionsscripts auf Problemsituationen», also die eigene Form der best practice permanent hinterfragt, in Bezug gesetzt, überprüft, ergänzt, erweitert oder gar ersetzt werden müssen, oder anders ausgedrückt: Es zeichnet berufliche Professionalität aus, dass die alltäglichen «Reflexe» immer wieder der Reflexion und Veränderung zugeführt werden.
Wirksame Reflexion braucht Bezugssysteme
Wie es bei physikalischen Wellen erst beim Auftreffen auf ein anderes Medium mit unterschiedlichem Wellenwiderstand (z. B. Grenze Luft–Wasser […]) zur Reflexion kommt, benötigt Reflexion des beruflichen Denkens und Handelns Bezugssysteme, die außerhalb der subjektiven Theorien liegen und eine andere «Beschaffenheit» aufweisen. Um den «Berg der Praxis» reflektieren zu können, braucht es den «See der Theorien» als anderes Medium.
Zu wirksamer Reflexion kommen wir also nur,
•indem wir alternative Aktionen in Betracht ziehen,
•uns «praktische und gute» Theorien aus der Berufswissenschaft über Literatur und Weiterbildung aneignen
•und indem wir mit Kolleginnen und Kollegen über deren subjektive Theorien und ihre Bezüge zu wissenschaftlichen Theorien in Austausch treten.
Dank metakognitiver Kompetenz sind wir in der Lage, aus der erweiterten Sicht dieser außerhalb liegenden Referenzpunkte auf unsere Aktionen und unsere subjektive Theorie zu blicken.
Für professionelles Handeln im (Lehr-)Beruf ist theoriegeleitete Reflexion Nutzen und Verpflichtung zugleich. Voraussetzung dafür ist, dass wir offen sind für
wissenschaftliche Theorien unseres Berufsfeldes. ›
Literatur
Freire, P. (1996). Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Dann, H.-D. (1994). Pädagogisches Verstehen: Subjektive Theorien und erfolgreiches Handeln von Lehrkräften. In K. Reusser & M. Reusser-Weyeneth (Hrsg.), Verstehen. Psychologischer Prozess und didaktische Aufgabe (S. 163–182). Bern: Huber.
Wahl, D., Wölfing, W., Rapp, G. & Heger, D. (Hrsg.) (1995). Erwachsenenbildung konkret. Mehrphasiges Dozententraining. Eine neue Form erwachsenendidaktischer Ausbildung von Referenten und Dozenten. Weinheim: Deutscher Studienverlag.
Auszug aus: Birri, T. (2006). «Nichts ist praktischer als eine gute Theorie». In D. Berlinger, T. Birri & B. Zumsteg, Vom Lernen zum Lehren. Ansätze für eine theoriegeleitete Praxis. Bern: hep (Aus der Praxis für die Praxis, H. 33/34), S. 8–18 (überarbeitet) © hep verlag, Bern.
5 Reflexionsfähigkeit und -praxis der Lehrperson
5 Reflexionsfähigkeit und -praxis der Lehrperson
Im folgenden Ausschnitt werden einige zentrale Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt dargestellt, das sich mit der Analyse der Reflexionsfähigkeit und -praxis der Lehrpersonen beschäftigt. Entstanden ist die Untersuchung im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt «Standarderreichung beim Erwerb von Unterrichtskompetenz im Lehrerstudium