Barbara Zumsteg

Didaktisch handeln und denken (E-Book)


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Soziale Wahrnehmung und Wahrnehmungsfehler

      Unsere Wahrnehmung von Menschen und Sachverhalten ist nicht objektiv. Wir machen uns ein Bild (unser Bild), indem wir aufgrund von Informationen und unseren Wahrnehmungen anderen Menschen Eigenschaften und Absichten zuschreiben. Im folgenden Ausschnitt werden mögliche Wahrnehmungsfehler beschrieben, die für Unterrichtsbeobachtungen und -besprechungen eine besondere Bedeutung haben.

      < Die Einschätzung «auf den ersten Blick»

      Der erste Eindruck bestimmt oft erstaunlich nachhaltig das Bild, das wir uns von Menschen machen. Die äußere Erscheinung des anderen und unsere eigene Spontanreaktion darauf (Sympathie / Antipathie) beeinflussen unsere späteren Wahrnehmungen. So tendiert man z. B. bei Menschen, die einem spontan gefallen, das zu übersehen, was nicht ins positive Bild passt. Leider gilt dies auch für den umgekehrten Fall. Unsere Wahrnehmung arbeitet selektiv. Der «erste Eindruck» kann nur schwer korrigiert werden.

      Vorgefertigte Bilder (Stereotype)

      Unsere Wahrnehmung wird beeinflusst durch vorgefertigte Bilder, die wir in unseren Köpfen haben. Man bezeichnet diese Bilder als Stereotype (griech. stereotyp: starr, ständig wiederkehrend). Es handelt sich um emotional gefärbte Vorstellungen, die sich auf ganze Gruppen (bzw. Klassen) von Menschen beziehen:

      •ein Italiener! (Nationenstereotyp)

      •ein Lehrer! (Berufsstereotyp)

      •ein Linker! (politisches Stereotyp)

      Wenn wir irgendeine Information über einen Menschen besitzen – wir wissen z. B., welchen Beruf er ausübt –, so treten diese Stereotype in Aktion: Wir beginnen den Unbekannten «einzuordnen», wir machen uns ein Bild, wir glauben, etwas über ihn zu wissen.

      Der Halo-Effekt

      Damit ist gemeint, dass irgendeine hervorstechende «Eigenschaft» einer Person den Gesamteindruck bestimmt. Alles andere wird davon «überstrahlt», es wird nicht mehr bemerkt (griech. halo = «Hof» um eine Lichtquelle).

      •eine schöne Frau!

      •ein erfolgreicher Mann!

      •ein schwacher Schüler!

      Die Beispiele machen deutlich, wie der Halo-Effekt mit den bestehenden Normen zusammenhängt. Wenn ein Schüler in den «zentralen» Fächern (Sprache, Rechnen) schwache Leistungen erbringt, ist er eben ein «schwacher Schüler». Andere Qualitäten werden dann weniger beachtet.

      Der logische Fehler

      Er besteht darin, dass wir annehmen, dass bestimmte Eigenschaften «logischerweise» zusammen auftreten:

      •intelligent, kritisch, ehrgeizig

      •dumm, faul, uninteressiert

      •höflich, sauber, anständig

      Schon ein kurzer Blick auf eine solche «Liste» lässt uns den logischen Fehler erkennen. Trotzdem beeinflusst er unsere Alltagswahrnehmung.

      Der Zuschreibungsfehler

      Grundsätzlich können wir «Eigenschaften» von Menschen überhaupt nicht beobachten. Was wir tatsächlich sehen, sind Verhaltensweisen in bestimmten Situationen: Wir tendieren aber dazu, aus einzelnen beobachteten Verhaltensweisen Rückschlüsse auf die Person selbst zu ziehen: Wir schreiben ihr Eigenschaften zu.

      •Einer, den wir bei einer Aggression beobachten, wird für uns «ein aggressiver Typ».

      •Wir ertappen jemanden bei einer Lüge: Er ist unehrlich.

      Zuschreibungen prägen unser «Bild vom anderen». Sie beeinflussen aber auch unser Verhalten. Von Zuschreibungen kann abhängen, ob wir mit dem anderen überhaupt etwas zu tun haben wollen oder nicht.

      Warum unterliegt die soziale Wahrnehmung so vielen Verzerrungen?

      Warum können wir andere Menschen nicht «objektiver» sehen?

      Es scheint, dass unser «Bildermachen» von wichtigen Bedürfnissen beeinflusst

      wird.

      1.Die Bilder sind einfacher als die Realität. Sie erleichtern dadurch die Orientierung und Entscheidung.

      2.Die Bilder sind dauerhafter als die Wirklichkeit. Wenn die Menschen «eben so sind, wie sie sind», fällt es uns leichter, ihr Verhalten zu verstehen, als wenn sie sich ändern.

      3.Die Bilder sind einheitlicher, weniger widersprüchlich als die Realität. Auch dies erleichtert uns die Orientierung und Entscheidung.

       4.Bilder (besonders Stereotype) erzeugen Übereinstimmung mit der Gruppe: «WIR» sehen die anderen so oder so.

      Wir nehmen Menschen wahr, indem wir uns ein Bild von ihnen machen. Die Bilder sind einfacher, dauerhafter und widerspruchsfreier als die Wirklichkeit. Gemeinsame Bilder stärken den Gruppenzusammenhalt. ›

      Auszug aus: Marmet, O. (2000). Ich und du und so weiter. Kleine Einführung in die Sozialpsychologie, Weinheim: Beltz, S. 60–63 © Verlagsgruppe Beltz, Weinheim.

      3 Reflexion des Handelns – eine grundlegende Kompetenz

      Im folgenden Ausschnitt fordert Regula von Felten, dass erfolgreiche Lehrerinnen und Lehrer fähig und bereit sein müssen, ihr eigenes Handeln zu reflektieren und zu verändern. Dazu gehört, Routinen zu hinterfragen und sein berufliches Handeln einer reflexiven Rechtfertigung zu unterziehen.

      < Reflexion als Mittel, eigenes Handeln zu entwickeln

      Eine erfolgreiche Lehrperson verfügt über ausreichendes Wissen und Können, um die Anforderungen des Schulalltags zu erfüllen. Sie kann beispielsweise Lernziele formulieren und begründen, Inhalte sinnvoll strukturieren und verschiedene Lehr-Lern-Arrangements realisieren. Sie versteht es, Schülerinnen und Schüler zu beobachten, ihre Ressourcen und Defizite wahrzunehmen und sie individuell zu begleiten. Sie kennt Möglichkeiten, um ein Gespräch zu eröffnen und zu leiten, Konflikte in der Klasse anzugehen und die Gemeinschaftsbildung zu fördern. Sie kann auf die Vorwürfe eines Vaters an einem Elternabend oder auf die Kritik einer Schülerin angemessen reagieren. Sie weiß, in welchen Situationen sie eine weitere Fachperson beiziehen sollte, und kann alleine und im Team Verantwortung übernehmen. Von ihr wird vieles und ganz Unterschiedliches erwartet.

      Nur ein umfangreiches Handlungsrepertoire macht es möglich, die vielfältigen Aufgaben des Lehrberufs zu bewältigen. Trotzdem muss eine Lehrperson stets damit rechnen, dass bisher bewährte Handlungen nicht zum Erfolg führen. Schülerinnen und Schüler, Eltern und Teammitglieder reagieren oft anders als erwartet. Eine Lehrperson sollte daher fähig und bereit sein, ihr eigenes Handeln zu reflektieren und zu verändern.

      Probleme, die im Schullalltag auftreten, fordern heraus und bieten gleichzeitig die Chance, Handlungsroutinen aufzubrechen und die eigene Kompetenz zu erweitern.

      «So notwendig und sinnvoll Routinen auch sind, sie verleiten dazu, Situationen zu nivellieren, die Sensibilität für Differenzen verkümmern zu lassen, den Blick für die geänderten Verhältnisse zu verlieren und schließlich sein eigenes pädagogisches Konzept nicht mehr infrage stellen zu wollen. Kompetentes Wissen und Handeln muss deshalb auf einer übergeordneten Ebene thematisiert werden. Es muss sich der reflexiven Rechtfertigung stellen» (Plöger 2006, S. 22).

      Um die Bedeutung der Reflexion zu begründen, bezieht Wilfried Plöger die Systemtheorie Luhmanns ein und verdeutlicht, dass die Kompetenzen von Lehrpersonen Resultat von Selektions- bzw. Reduktionsprozessen sind. Handlungsroutinen kommen durch Negation anderer Möglichkeiten zustande. Eine Lehrperson hält an einmal Bewährtem fest. Sie kann und will sich nicht jeden Tag neu entscheiden, denn dann wäre sie letztlich handlungsunfähig. Pädagogisches Wissen und Können hat aber immer nur eine vorläufige Gültigkeit und muss als