Wolfgang Schönig
Vorwort
Wer als Schulpädagogin oder Lehrer in Schulen ein und aus geht, dem ist die Tristesse, Unwirtlichkeit und Unfreundlichkeit unserer Schulen geläufig: lange und öde Flure, Verkehrsflächen, die für das Lernen nicht genutzt werden, versiegelte Schulhöfe, die die Kreativität ersticken und den Bewegungsdrang hemmen. Die Klassenzimmer gleichen sich in ihrer Monotonie und eingeschränkten methodischen Nutzbarkeit. Gestaffelte Tisch- und Stuhlreihen legen die Aufmerksamkeit der Lernenden in einer Richtung, nämlich nach vorne, fest. Keine Gesprächsatmosphäre, kein kooperatives Ringen der Schüler und Schülerinnen um Lösungen und kein Blickkontakt mit einem entfernt sitzenden Schüler sind ohne größere Umstände möglich. Um der Prozedur des Umstellens der Tische zu Gruppentischen zu entgehen, heißt es: »Dreht euch mal zu eurem Partner um und besprecht das Arbeitsblatt!« Freilich, wir kennen auch ganz andere Schulen! Erstaunlich aber ist, dass trotz des aufgehäuften Wissens über die Bedeutung des Schulraums für das Lernen und Wohlbefinden der Schulmitglieder nur wenige Schulen das Potenzial des Raums für die Bildungsprozesse zu nutzen wissen. Woran liegt das?
Unsere Aufmerksamkeit wurde besonders angesprochen, als wir vor einigen Jahren in einer unserer Kooperationsschulen mit dem Mobiliar des »flexiblen Klassenzimmers« Bekanntschaft machten. Unterricht kann auch anders ablaufen, wenn eine räumliche und methodische Dynamik im Klassenzimmer entsteht – das war unser erster Eindruck. Die Gespräche, die wir mit Lehrkräften und Lernenden führten, motivierten uns, der Frage der Nutzung des flexiblen Klassenzimmers durch ein Forschungsprojekt nachzuspüren. Wir danken Frau Dr. Astrid Baltruschat für wichtige Impulse in der Anfangsphase des Projekts. Eine Tagung mit dem Thema »Neue Kulturen des Lernens und Lebens im Raum der Schule« am 7. und 8. Oktober 2011 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt schloss sich an. Unser Interesse am Thema des vorliegenden Buches entstammt also nicht in erster Linie dem seit Jahren zu beobachtenden Diskurs zum Zusammenhang von Raum und Bildung, sondern vor allem der Anregung durch die Praxis selbst.
Wir freuen uns, dass dieses Buch, an dem viele mitgewirkt haben, entstehen konnte. Ohne die Öffnung zahlreicher Schultüren und ohne die Gesprächsbereitschaft unserer Kooperationspartner wäre dies nicht geschehen. Wir danken vor allem Frau OStDin Langer, Albrecht-Ernst-Gymnasium Oettingen, und Herrn Rektor Ottmar Misoph, Mittelschule Thalmässing, sowie ihren Kollegien für die unablässige Unterstützung durch Gespräche, Schulbesuche und Bereitstellung zahlreicher Fotos. Weitere Schulen, Architekten und Autoren haben uns wertvolles Bildmaterial zur Verfügung gestellt, das in das Buch Eingang gefunden hat. Auch dafür herzlichen Dank! Unsere Arbeit hat bei Frank Thybo, dem Inhaber der Firma Nordisk Skoletavle Fabrik (NSF) in Kolding (DK), viel Interesse und Wertschätzung gefunden. Er hat unsere Bemühungen nicht nur mit hoher pädagogischer Aufmerksamkeit begleitet, sondern auch das Entstehen des Buches finanziell möglich gemacht. Wir danken ihm für sein hohes Engagement! Auch Christine Geyer, Sekretärin am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Universität Eichstätt-Ingolstadt, ist zu danken für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Schließlich gebührt dem hep Verlag ein herzliches Dankeschön für vielfältige Unterstützung, Beratung und ein ausgezeichnetes Lektorat.
Eichstätt im Januar 2013
Wolfgang Schönig, Christina Schmidtlein-Mauderer
Einleitung von Wolfgang Schönig und Christina Schmidtlein-Mauderer
Für den Menschen ist der Raum ein Medium des Lebens. Als Subjekt ist er in räumliche Strukturen und Ordnungen involviert und geht mit ihnen Beziehungen ein. Somit ist er untrennbar mit dem ihn umgebenden Raum verbunden (vgl. Rehle, 1998). Der Tübinger geisteswissenschaftliche Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »erlebten Raumes«: »Nicht gemeint ist damit der nur vorgestellte, imaginäre Raum, der eine vom Menschen losgelöste Wirklichkeit bezeichnet, sondern der Raum, wie er für den Menschen da ist, und in eins damit […] das menschliche Verhältnis zu diesem Raum; denn beides ist voneinander gar nicht trennbar« (Bollnow, 2004, 18). Graf Dürckheim (1896–1988) geht einen Schritt weiter und macht auf die Ambivalenz des gelebten Raumes aufmerksam: »Der gelebte Raum ist für das Selbst Medium der leibhaftigen Verwirklichung, Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durchgang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze, Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner augenblicklichen Seins- und Lebenswirklichkeit« (Graf Dürckheim, 1932, 389).
Demnach kann man die Mensch-Raum-Beziehung als eine anthropologische Konstante verstehen, die gleichwohl intersubjektiv unterschiedlich zur Geltung kommt, je nachdem, welche Raumkonzepte Menschen entwickeln. Raumdimensionen werden nämlich auf verschiedene Weise wahrgenommen, sodass sie unterschiedliche Qualität erhalten. In der wahrgenommenen Differenzierung der Raumdimensionen teilen sich je eigene Bedeutungsinhalte des Raumes mit. Die Begegnung mit dem Raum ist ein weitgehend unbewusster Erlebnisvorgang, mit dem das Subjekt eine innere Raumordnung bzw. einen ›phänomenalen Raum‹ bildet. Die kognitionspsychologische und neuropsychologische Forschung macht darauf aufmerksam, dass der erfahrene Raum im Gehirn nicht als ›objektiver Raum‹ bzw. nicht mathematisch exakt repräsentiert wird, sondern in einer neuen Qualität erscheint. Raumerfahrung ist unlösbar mit der Erfahrung des eigenen Leibes und mit einer Vielfalt affektiver Tönungen verknüpft. Der Körper fungiert dabei als ein räumliches Referenzsystem, das die Eindrücke der verschiedenen Sinne zu einem eigenen ›subjektiven Raum‹ verdichtet. Die Eindrücke unserer verschiedenen Sinne vom Raum werden nicht etwa separat kodiert im Sinne eines Hörraums, Tastraums oder Sehraums, sondern werden sie vom Hirn ›intermodal‹ gespeichert. Ontogenetisch gesehen, kommt der taktil-kinästhetischen Sinneserfahrung dabei eine besondere Bedeutung zu. Für das kleine Kind ist das Tasten und Sichbewegen im Hör- und Sehraum die wesentliche Basis für die Entwicklung von Raumgefühl und einem sicheren Raumkonzept. In der taktil-kinästhetischen Aktivität des jungen Menschen eröffnet sich ihm ein sensomotorischer Raum. Die Wahrnehmungen von Zeit-Raum-Relationen, von Bewegungsunterschieden und Ereignisfolgen werden zu einem inneren Vorstellungsbild vom Raum verdichtet. Die Körpererfahrungen verschaffen ihm einen Zugang zur Welt (vgl. Liechti, 2000, 226ff.).
Bereits diese wenigen Hinweise deuten an, dass das Lernen unauflöslich an die Erfahrung des Raumes gebunden ist. Durch die Körperwahrnehmungen bildet sich ein Verständnis für die Phänomene und ihre Eigenschaften. Die leibhaftigen Eindrücke werden mental zu Vorstellungen verarbeitet, denen die Bildung von Symbolen wie Sprache oder Zahlen folgt. Vereinfachend gesagt, gelangt der Mensch von der Bewegung (des Greifens) zum Begreifen und zum Begriff. Der Begriff erscheint somit als eine Abstraktion der vielfältigen leibhaften Veränderungen, die das Subjekt in seinen räumlichen Bezügen erfahren hat. Die Räume, in denen wir leben, erziehen und beeinflussen uns weit über die bewussten Wirkungsmechanismen hinaus, Räume bilden und werden gebildet (vgl. Becker/Bilstein/Liebau, 1997).
Diese Überlegungen werfen nicht nur Fragen an ein einseitiges symbolisch-abstraktes Lernen auf, das die Lernroutine unserer Schulen immer noch prägt, sondern sie weisen darauf hin, dass die Bedeutung der räumlichen Gestaltung sowie die Art der Nutzung unserer Schulräume für das Gelingen schulischer Bildung noch oft unterschätzt wird. Wie müssen schulische Lern-Räume beschaffen sein, damit sich Lernen und Bildung ereignen können, die Schule für die Heranwachsenden subjektiv bedeutsam sein und als ein Ort des Lebens eine Bereicherung anstatt eines hingenommenen Zwangs sein kann?
Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs werden diese Fragen seit einigen Jahren aufgegriffen. Konnte Jeanette Böhme festhalten, dass »der Raum« bislang keine zentrale Kategorie der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung war und im Diskurs eher »implizit mitgeführt« wurde (Böhme, 2009a, 13), so hat das Raumthema vor allem in der Schulpädagogik neuen Auftrieb bekommen. Es wird von einem »spatial turn«, von einer Wende zum Raumthema gesprochen (Böhme, 2009b). Die Raumvergessenheit insbesondere der Pädagogik scheint ein Ende gefunden zu haben. Inzwischen wird deutlich gesehen, dass der Schulraum kein Behältnis für Schülermassen