Wolfgang Schönig

Gestalten des Schulraums


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Raumkonzepts werden vor dem Hintergrund der Polarität von Zentralität und Dezentralität näher bestimmt.

      Einführende Überlegungen

      Die historische Entwicklung des Schulraums impliziert und indiziert den Wandel der Auffassungen von Unterricht, Schule und Menschen. Den Raum pädagogisch zu nutzen und als nonpersonalen Erzieher oder Lehrer, präziser: als Lernunterstützer zu verstehen, ist eine zentrale Forderung heutiger päda­gogischer Ansätze, beispielsweise der Montessori-Pädagogik, des offenen Unterrichts und insbesondere der Reggio-Pädagogik (vgl. Göhlich, 1998 und 2009a, 67ff.). Die bewusste pädagogische Nutzung des Raumes ist jedoch viel älter. So fordert Erasmus schon im frühen 16. Jahrhundert, Wandinschriften als stumme Lehrer einzusetzen (vgl. Michael, 1963, 30). Von Melanchthon ist der Einsatz eines die Tugend der Mäßigung versinnbild­lichenden Holzschnitts hinter seinem Katheder bekannt (vgl. Greschat, 2010). Und in der mittelalterlichen Bezeichnung der Unterlehrer als Lokaten klingt die regelmäßige Verortung verschiedener Schüler»haufen« an verschiedenen Stellen (»loci«) des damals noch einen Schulraums an.

      Die Geschichte des Schulraums und des Verhältnisses zwischen dem Schulraum und den Auffassungen von Schule, Unterricht, Lehrern und Schülern lässt sich grob in die Zeit des Ancien Régime und die Zeit der Moderne unterteilen. In Ersterer zeugt der Schulraum von ständischer, in Letzterer von funktionaler Differenzierung. Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein wird das Schulhaus als Haus des Lehrers konzipiert, in dessen einem großen Unterrichtsraum Schüler verschiedenen Alters und verschiedener Leistungsstufen gemeinsam, wenngleich gegebenenfalls auf verschiedenen Bänken nach Ständen und/oder Leistungsstufen sitzend und zuweilen von mehreren Lehrkräften unterrichtet werden. Der Übergang zur modernen Gesellschaft und zu der ihr eigenen funktionalen Differenzierung wird schulräumlich durch die Ausgliederung der Wohnräume des Lehrers bzw. Schulleiters aus dem Schulhaus sowie durch die bauliche Abtrennung und Reihung mehrerer, jahrgangsdifferenzierend genutzter Klassenzimmer angezeigt.

      Diese grobe Unterscheidung lässt sich weiter ausdifferenzieren, insbesondere im Hinblick auf Konzeption und Realität des Schulraums und die pädagogische Praxis in der Moderne. Die folgende Skizze, in die frühere Arbeiten des Autors eingegangen sind (vgl. Göhlich, 1990, 1993, 1997, 1999, 2009b), geht in sechs Schritten vor: Frühe Neuzeit (16./ 17. Jh.) – Aufklärung (18. Jh.) – Industrialisierung/Militarisierung (19. Jh.) – Reformpädagogik (frühes 20. Jh.) – neue Reformpädagogik (spätes 20. Jh.) – Virtualisierung (frühes 21. Jh.).

      1 Frühe Neuzeit

      Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gilt das ganze Schulhaus als Wohnung des Lehrers. Anders gesagt: Unter den Bezeichnungen »Schulhaus« oder »Schule« wird das Haus des Schulmeisters verstanden, in dem eben auch der Unterricht stattfindet. Berufstätigkeit und Privatleben werden noch nicht getrennt. Selbst in den großen Lateinschulen des 16. und 17. Jahrhunderts wohnen der Rektor und seine Schulgesellen nach Möglichkeit im Schulhaus; wo dies mit zunehmender Größe der Schule und entsprechender Anzahl der Lehrkräfte nicht möglich ist, werden Wohnräume für die Lehrkräfte in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule erstellt, wobei der Bau im Einzelfall für den Rektor bzw. Schulmeister das Privileg vorsieht, unmittelbar aus seiner Wohnung (im Nachbarhaus) in seinen Lehrraum (im Schulhaus) zu gelangen. In kleineren und einfacheren Schulen ist selbst ein separater Unterrichtsraum im Haus des Schulmeisters keineswegs selbstverständlich. Das »Schulehalten« erfolgt dort in der Wohnstube des Schulmeisters und ist dementsprechend eng in dessen allgemeines Hauswesen – von der Kleinkindversorgung bis zur Altenpflege, vom Haushalt bis zur nichtschulischen Erwerbstätigkeit – eingebunden.

      Obwohl die Regel, dass das Schulhaus eben das Haus des Schulmeisters ist, für die damaligen Schulen generell gilt, sind schon im späten Mittelalter und dann die frühe Neuzeit hindurch zwei Schulraumtypen zu unterscheiden: die zunächst (als Kloster- und Domschule) kirchliche, später zunehmend auch (als Ratsschule) städtische Lateinschule und die private (handwerklich-zünftige)

      Schreib- und Rechenmeisterschule. Exemplarisch lässt sich dies an der Gegenüberstellung zweier im 16. Jahrhundert entstandener Bilder belegen. Das erste zeigt eine Lateinschule (s. Abb. 1), das zweite eine Rechenmeisterschule (s. Abb. 2).

      Abbildung 1

      Lateinschule (1592)

      Quelle: Alt, 1966, 351

01_Lateinschule_1592.tif 02_Rechenmeisterschule_16Jh.tif

      Abbildung 2

      Rechenmeisterschule (16. Jahrhundert)

      Quelle: Alt, 1966, 209

      Gemeinsam ist beiden, dass der gesamte Unterricht in einem einzigen Raum stattfindet. Gemeinsam ist beiden auch, dass der Raum nicht frontal ausgerichtet ist. Unterricht vorrangig frontal und/oder jahrgangsspezifisch durchzuführen, ist der damaligen Zeit fremd und setzt sich erst im 19. Jahrhundert durch.

      Trotz dieser Gemeinsamkeiten sind die erheblichen Unterschiede der beiden Schulraumtypen im 16. Jahrhundert offensichtlich. Bei aller Dezentralität des verwinkelten Großraums der Lateinschule, in dessen verschiedenen Bereichen Unterlehrer Abteilungen von Schülern unterrichten, ist in Kathedra und Rute des Schulmeisters auf den Darstellungen jener Zeit doch dessen Lehr- und Sanktionsprimat eindeutig auszumachen. Das hausherrliche Recht gilt zwar grundsätzlich auch für die Rechenmeisterschulen, aber das selbstverständliche Zelebrieren der Körperstrafe fehlt dort, und die räum­liche Dezentralität wird weniger durch Insignien der Macht des Lehrers konterkariert als in der Lateinschule. Während die Lateinschüler auf langen Bänken in fester Ordnung sitzen oder in Reihen vor dem auf dem Lehrstuhl sitzenden Schulmeister stehen, sitzen die Schüler in der frühneuzeitlichen Rechenmeisterschule um einen Tisch, auf dem ihnen mittels Rechenbrett und Rechenpfennigen eigenständige und selbst kontrollierbare Lösungsversuche ermöglicht werden. Die bildliche Ebenbürtigkeit von Schülervater und Rechenmeister und die im Hintergrund selbstständig lernenden oder ungestraft schlafenden Schüler stärken den innerschulischen Stellenwert des neu als Schüler eintretenden Kaufmannssohns ebenso wie der Vertrag (s. die Papierrolle in der linken Hand des Meisters) über seine Ausbildung, in dem sich der Rechenmeister dazu verpflichtet, ihm alles beizubringen, was er selbst beherrscht. Im Unterschied zu den privaten Schreib- und Rechenmeisterschulen sind die Lateinschulen der damaligen Zeit in der Regel zudem (im Verhältnis zur Schülermenge) kaum mit Tischen ausgestattet. Dies ist darin begründet, dass in diesen Schulen hauptsächlich gehört, gelesen, gesungen und rezitiert, dagegen weniger geschrieben und noch weniger gerechnet wird. Die unterschiedlichen Raumgestalten verkörpern unterschiedliche Bilder vom Menschen: Lateinschüler werden auf Orthodoxie und Hierarchie vorbereitet, Rechenschüler dagegen auf betriebliche Selbstständigkeit, Vertraglichkeit und Gleichrangigkeit innerhalb der Zunft.

      2 Aufklärung

      Die oben beschriebenen Schul- und Schulraumtypen bestehen bis ins 19. Jahrhundert weiter fort. Zwar werden bei großem Schülerzulauf und baulichen bzw. finanziellen Möglichkeiten der Stadt in manchen Schulen getrennte Räume für verschiedene Klassen eingerichtet. Aber die separaten Klassen sind nach wie vor nicht als Jahrgangsklassen und der Unterricht ist nicht als Frontalunterricht konzipiert. So lässt sich am Beispiel der Elementarklasse des Gymnasiums in Burgsteinfurt um 1800 (s. Abb. 3) erkennen, dass in dem einen Raum – der übrigens immer noch nur zwei Schreibtische enthält – rund um den Ofen und eben nicht als Ensemble frontal angeordnete Bänke stehen, welche die Menge der in ein und demselben Raum unterrichteten Schüler zum einen ständisch (Bauern- und Bürgerbänke), zum anderen curricular (Abc-Bänke, lateinische