Wolfgang Schönig

Gestalten des Schulraums


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das gesamte Schulprogramm oder Lernpensum der Elementarschule des einen Präzeptors durchlaufen: vom Abc bis zu den lateinischen Anfangsgründen«.

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      Abbildung 3

      Elementarklasse einer Lateinschule (ca. 1800)

      Quelle: Lange, o.J.

      Gegen Ende der frühen Neuzeit wird – wenngleich nur vereinzelt – der Schulraum zur Welt und zum bis dahin nicht bildungsrelevanten Leben hin geöffnet. Diese neuartigen Schulräume unterscheiden sich von den Lateinschulen insbesondere in der Ermöglichung eigener praktischer, nicht auf Literatur und wörtliche Lehre reduzierter Erfahrung. Ohne dies konzeptionell explizit zu reflektieren, stehen sie in gewisser Weise, wenngleich in einem ständisch und curricular ganz anderen Kontext, in der erfahrungsbezogenen Tradition der Rechenmeisterschulen. In den Fecht-, Reit- und Ballspielräumen der Ritterakademien zeigen sich ein neuer Bezug zum Körper und der Wunsch, diesen schulisch auszubilden. Die körperlichen Übungen haben dabei nicht mehr den Ernstcharakter ritterlicher Übungen. So ermöglicht beispielsweise das in den Ritterakademien eingeführte Voltigieren an einem in einem Saal stehenden Pferd auf Holzbeinen zwar eine womöglich lustvolle und Abenteuer verheißende Erfahrung, bleibt aber Simulation. Die Darstellung des Schulraums einer Ritterakademie aus dem frühen 18. Jahrhundert (s. Abb. 4) zeigt einerseits die im Vergleich zu zeitgleichen Lateinschulen reiche Literaturausstattung des Schulraums dieser privilegierten Einrichtung und belegt andererseits – dies ist das Novum dieses die Aufklärungspädagogik ankündigenden Schulraumtyps – das Bemühen, sich über Wort und Schrift hinaus der Welt vorrangig mittels direkter Erfahrung, zumindest mittels der Arbeit am Modell zuzuwenden. Der mitten im Raum stehende Relieftisch mit dem Modell einer Festung dient zur Erarbeitung militärischer Strategien ebenso wie zur Veranschaulichung ballistischer Probleme. Das Naturalienkabinett inklusive seiner Modelle sowie die Drechselbänke in Franckes Hallescher Schulstadt Anfang des 18. Jahrhunderts sind weitere (hier nicht in Bildern wiedergegebene) Versuche jener Zeit, der realen Welt schulräumlich-materiell näherzukommen.

      Abbildung 4

      Ritterakademie 1719

      Quelle: Alt, 1966, 378

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      Noch stärker ausgeprägt ist dieses Bemühen in den Philanthropinen des späten 18. Jahrhunderts und in Wolkes 1805 publiziertem Denklehrzimmer (s. Abb. 5 auf S. 31; vgl. Göhlich, 1993, 204ff.).

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      Abbildung 5

      Denklehrzimmer (Wolke 1805)

      Quelle: Rutschky, 1977, Abb. 12

      Wolke empfahl die Einrichtung eines solchen Denklehrzimmers »für diejenigen, die noch ganz ohne Buch Vorstellungen und Begriffe erlangen oder in der Sprache und im richtigen Denken geübt werden sollen« (Wolke, 1805, 474), also sozusagen für die Eingangsstufe einer Schule sowie für das Haus der (adligen und /oder bürgerlichen) Familie. Auch wenn es sich bei den auf der Abbildung im Raum vorzufindenden Erwachsenen und Kindern nicht um Lehrer und Schüler, sondern um Vater, Mutter und Kinder einer Familie handelt und das Denklehrzimmer somit in der Abbildung nur im Haus der Familie und (im Unterschied zu Wolkes Begleittext) nicht auch im Schulhaus verortet wird, steht es für aufklärungspädagogische Neuerungen der Konzeption des pädagogischen Raums. Der pädagogische Raum wird weniger als Lehrraum denn vielmehr als Lern- und Erfahrungsraum konzipiert. Nicht zufällig nennt Wolke in seinen Ausführungen zum Denklehrzimmer eines der Kinder »Denking« und ein anderes »Lerning«. Der Raum soll offensichtlich Erfahrungen ermög­lichen und Lernprozesse anregen. Die sich schon im Raum der Ritterakademien andeutenden schulräumlichen Neuerungen auf die Spitze treibend, zielt Wolkes Konzeption des Denklehrzimmers darauf, den Raum selbst als Lehrer zu nutzen, »ein lebloses Zimmer die Stelle eines Lehrers vertreten« (Wolke, 1805, 474) zu lassen und hierzu den Unterrichts- bzw. Lern- und Erfahrungsraum auf möglichst vielfältige Weise – z.B. durch geometrische Rasterung der Wände, durch zur Beobachtung von Pflanzenwachstum und Vögeln angebrachte Fenstersimse, durch für Lernende verschiedenen Alters teils auf dem Boden, teils auf Tischen unterschiedlicher Höhe zur Verfügung stehende Materialien – mit der sonstigen Welt und dem Leben zu verbinden.

      3 Industrialisierung/Militarisierung

      Solche in der Aufklärung zu findende, wenn auch im Schulwesen ihrer Zeit Einzelfälle bleibende Ansätze, den Schulraum weltoffener zu gestalten, insbesondere Naturphänomene und technische Erfindungen im Schulraum erfahrbar zu machen, werden im 19. Jahrhundert – obwohl sie eigentlich gut zur dann entstehenden Industriegesellschaft zu passen scheinen – eher abgewürgt als weiterentwickelt, was nicht zuletzt mit der von Humboldt mitbegründeten, bis heute im deutschen Schulwesen problematischen Trennung zwischen Bildung und Beruf in Verbindung gebracht werden kann.

      Charakteristisch für den modernen Schulraum ist der preußische Schulbau des späten 19. Jahrhunderts, der »wilhelminische« Schulraum der Kaiserzeit. Nicht erst aus der späteren reformpädagogischen Sicht, sondern schon aus der (Außen-)Sicht eines (englischen) Zeitgenossen (s.u.) ähnelt dieser einer Kaserne. Das Schulhaus besteht nun aus einem oder mehreren Trakten, die von einem Flur durchzogen werden, von dem aus nacheinander gereihte gleichförmige Klassenräume betreten werden können, die ihrerseits durch eine auf Katheder und Tafel ausgerichtete frontale Sitzordnung fest installierter, gegebenenfalls aufsteigend angeordneter Bank-Tisch-Reihen gekennzeichnet sind.

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      Abbildung 6

      Wilhelminischer Schulraum (Ende 19. Jahrhundert)

      Quelle: Bendele 1984, ohne Seitenangabe

      Dieser kasernenähnliche Typus des Schulraums und – eng mit ihm verbunden – der Frontalunterricht setzen sich durch, als es im hoch militarisierten Preußen um die Bildung und Gliederung der Massen geht. Der Schulraum ist nun nicht mehr kirchlich, zünftig, höfisch oder bürgerlich, sondern militärisch strukturiert: »The system of public instruction is almost, if not quite, as military in spirit as that which governs the army, and the buildings do not escape the regime«, schreibt Robson (1874, 71) über die preußischen Schulbauten. Dass dieser moderne Schulraum den Vorbildern der Fabrik und des Militärs folgt und dementsprechend wirkt, wird also keineswegs erst von reformpädagogischen Autoren des 20. Jahrhunderts bemerkt und reflektiert. Obgleich Robson an dieser im 19. Jahrhundert neuen Schulraumkonzeption manches (u.a. Größe, Ordnung, Helligkeit) fasziniert und er dies in die Reform des Schulbaus in England einbringt, blickt er doch auch kritisch auf diesen neuen Schulraumtyp, der nicht nur die Kontrolle zentralisiert, sondern zudem die Separierung und Isolierung der Schülerjahrgänge und die Separierung und Isolierung der (zuvor im Großraum gleichzeitig anwesenden) Lehrer mit sich bringt und darüber hinaus auch noch die Gleichschrittigkeit des Lernens aller Schüler einer Klasse voraussetzt.

      Robson schaut sich viele preußische Schulen an und beschreibt sie seinen Landsleuten: »There is a series of class-rooms entered from a wide corridor. He [the child] is placed in one of these, fitted with benches and desks precisely similar to, but smaller, than those used by boys twice his age, and there he commences that intellectual drill which is continued till the age of 14. Such a system must give a dull boy a better chance, for the most awkward recruit will make a tolerable soldier if drilled regularly, and […] for a sufficient long time. It can hardly fail to raise the masses