Wolfgang Schönig

Gestalten des Schulraums


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Qualitätsstandards und Leitlinien für eine pädagogisch ausgerichtete Schularchitektur an und markiert die Eckpunkte für eine Schulentwicklung, die eine anspruchsvolle Lernkultur, das Anliegen der Lebensraumorientierung und die Schulraumgestaltung zusammenzubringen versucht. Am Anfang steht der Beitrag von Karin Doberer und Michael Brückner, dem die Erfahrung der pädagogischen Bau­begleitung in Korrespondenz mit Architekten zugrunde liegt. Zunächst werden die Versäumnisse im Schulbau vor dem Hintergrund moderner Lern­anforderungen aufgezeigt und die räumlichen Voraussetzungen für Kooperation im Kollegium als unzulänglich charakterisiert. Vorgestellt wird das Konzept »Raumfunktionsbuch« als Basis des gemeinsamen Planungsprozesses aller Beteiligten. Doberer und Brückner greifen einen Bezugspunkt des Planungsprozesses, das Klassenzimmer, heraus und zeigen dessen Veränderung zur »LernLandSchaft«. Am Beispiel der Sanierung der Beruflichen Schulen Witzenhausen werden die vorgestellten Planungsprämissen buchstäblich ins Bild gesetzt. Jutta Schöler greift das Thema der Inklusion auf und zeigt, auf welche bau­lichen Merkmale der Schule eine Pädagogik trifft, die mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention des Jahres 2009 Ernst machen soll. Eine inklusive Schule, die sich auf die besonderen Bedürfnisse behinderter Menschen einlässt, ist, so Schöler, ein Lernort, an dem sowohl die Einstellungen von Pädagoginnen und Pädagogen proaktiv sind als auch die räumlichen Gegebenheiten für die Aufnahme und Annahme behinderter Menschen umgestellt werden. Schöler erläutert dies an verschiedenen Beispielen: den Wegen im Schulhaus für die Rollstuhlfahrerin, dem Klassenraum für im Sehen oder im Hören eingeschränkte Schüler, der gemeinsamen Toilette für behinderte und nichtbehinderte junge Menschen und der gemeinsamen Nutzung der Schulküche im Rahmen eines lebenspraktischen Unterrichts. Der Beitrag von Florence Verspay und Frank Hausmann kann als ein Beispiel für eine veränderte Sicht der Architektur auf den Schulraum und somit als Quintessenz der im Buch referierten Reformvorschläge gelesen werden. Der Titel des Beitrags »Wie sich Schulen verändern müssen …« kündigt paradig­matisch an, dass der Wandel der Lehr- und Lernkonzepte eine Entsprechung in der schulischen Architektur finden muss. Damit diese Forderung erfüllt werden kann, ist eine enge Zusammenarbeit von Nutzern und für den Bauprozess Verantwortlichen Voraussetzung. Der erste Schritt einer Kooperation besteht aus einer Analyse des Ist-Zustandes der räumlichen Gegebenheiten im Schulalltag. Anhand verschiedener Praxisbeispiele wird sichtbar, wie päda­gogische Konzepte in der räumlichen Umsetzung abgebildet werden können. Damit der Entwicklungsprozess optimiert werden kann, plädiert das Verfasserteam für eine »Phase null«, eine Integration aller Beteiligten in die Planung von Anfang an. Gemeinsam erstellte Nutzungsszenarien sollen helfen, räumliche Abhängigkeiten rechtzeitig zu erkennen. Anschließend legen Hausmann und Verspay wesentliche Aspekte dar, die exemplarisch als Prozessgrundlage für eine auf pädagogische Anforderungen ausgerichtete Architektur dienen können. Der Beitrag von Josef Watschinger setzt diese gedankliche Linie fort und verdeutlicht exemplarisch das Ergebnis eines gelungenen Planungsprozesses. Watschinger spricht an, welchen Weg das Land Südtirol beschreitet, um die Lehr- und Lernräume in Einklang zu bringen mit der sich entwickelnden erweiterten Lernkultur, und geht kurz auf die neuen Schulbaurichtlinien ein. Am Beispiel der neuen Grundschule Welsberg wird ein Mut machender Ansatz präsentiert. Abschließend wird der Versuch unternommen, einige Merkmale pädagogisch gelungener Architektur zu formulieren.

      Literatur

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      Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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      Walden, Rotraut/Borrelbach, Simone (2002): Schulen der Zukunft. Gestaltungsvorschläge der Architekturpsychologie. Heidelberg: Asanger.

      Watschinger, Josef (2011): Südtirol auf dem Weg zu pädagogisch gestalteten Lehr- und Lernräumen. In: Erziehung & Unterricht, 161. Jg., H. 5/6, S. 530–541.

      Watschinger, Josef/Kühebacher, Josef (Hgg.) (2007): Schularchitektur und neue Lernkultur. Neues Lernen – Neue Räume. Bern: hep.

      Schule als Lernraum

      Historische und zeitgenössische Analysen

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      Michael Göhlich

      Die Entwicklung des Schulraums

      Eine historische Skizze

      In einem Durchgang durch die Geschichte seit der frühen Neuzeit legt Michael Göhlich in sechs Schritten dar, wie sich der Schulraum von einer ständisch geprägten Nutzungsweise allmählich funktional ausdifferenziert. Er spannt den Bogen von der Lateinschule und der Rechenmeisterschule des 16./ 17. Jahrhunderts über die Epoche der Aufklärung, der Industrialisierung und Militarisierung des preußischen Staates und den wilhelminischen Schulbau im 19. Jahrhundert, die Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts sowie die ein halbes Jahrhundert später erscheinenden Konzepte des