Der Verlust an unterrichtlicher Flexibilität und an Berücksichtigung der Individualität ist ein wesentliches Implikat des Schulraums der Moderne. Der moderne Schulraum preußischer Provenienz ist ein Raum des zentral gesteuerten unterrichtlichen Gleichschritts.
Der Vorlauf dieses Schulraumtyps ist lang, er reicht gut drei Jahrhunderte zurück. Schon der Kupferstich, der Luthers Aufruf zur Gründung christlicher (Rats-)Schulen bebildert, zeigt die gewünschte Zentralität des Lehrers und das zugleich gewünschte Hintereinandersitzen der Schüler vor diesem an. Mit Comenius nimmt das Bemühen um räumliche Zentralisierung in Koppelung mit einer Vorstellung des Unterrichts, der allein vom Lehrer ausgeht, zu. Auch Pestalozzis Ausrichtung der gesamten Schülerschar auf die Tafel bzw. Tabelle und seine Methode des Zusammensprechens zielen auf den zentral gesteuerten Gleichtakt des Unterrichts. Aber erst in den preußischen Schulbauten des 19. Jahrhunderts mit ihren je Stockwerk von einem Flur abgehenden, für Jahrgangsklassen vorgesehenen Klassenzimmern, die jeweils ein Lehrerpult und vor diesem gegebenenfalls aufsteigend gereihte Schülersitze und -tische vorsehen, etabliert sich diese Form als Schulraum der Moderne.
Dass dieser Schulraumtyp eine preußische Lösung ist, in England hingegen die im ersten Abschnitt skizzierte alte Bauweise und das ihr zugehörige Schulverständnis zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein beibehalten oder die räumliche Einheit nur auf flexible Weise, z.B. mittels Vorhängen, getrennt wird, sei angemerkt. Begründen lässt sich die dortige längere Beibehaltung des Großraums mit der Scheu vor dem mit der modernen Form verbundenen Risiko, dass die Schule ihre Einheit verliert, in Klassen auseinanderfällt. Freilich ist dieses Auseinanderfallen selbst eine ältere Tendenz, die schon in den großen Lateinschulen der frühen Neuzeit mit der Entstehung von Fachklassen für Schreiben und Rechnen beginnt und mit der Entscheidung für Jahrgangsklassen an Dynamik gewinnt. Letztlich setzt sich das »German planning« (vgl. Filmer-Sankey, 2003, 225) in Form von »a class room for every class and a general room for assembly« (T. Roger Smith, zit. n. Filmer-Sankey, 2003, 224) auch in England durch.
Während im englischen Schulraum das häusliche Modell zumindest im »assembly room« bzw. in der »hall« fortwirkt, erzeugt der preußische Schulraum Zugehörigkeit nicht im lokal-familiären, sondern im nationalen Sinn. Die großen, hellen, reinlichen Schulbauten des späten 19. Jahrhunderts dienen nicht nur der Hygiene, sondern bringen Reichtum und Nationalstolz der Sieger von 1870/71 in einer auch für die Kinder der »Massen« erlebbaren Form zum Ausdruck. Ist das sorgsam filternde Verhältnis des wilhelminisch-preußischen Schulraums zur Welt eine abwehrende Reaktion auf die Vermehrung gesellschaftlicher Information und die Beschleunigung des gesellschaftlichen Informationsflusses, so wird die innere Nüchternheit zugleich – zumindest bei Gymnasialbauten jener Zeit – von imposanter Fassade umgeben. Wer den aufwendig gestalteten Eingang durchschritten hat, befindet sich gleichsam in heiligen Hallen der Bildung, in denen das Leben nichts zu suchen hat.
4 Reformpädagogik (frühes 20. Jahrhundert)
Reformpädagogische Versuche fanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts sicher verschiedentlich auch in wilhelminischen Schulkasernen statt, ohne dabei deren räumliche Grundstruktur zu ändern. So ist in Abbildung 7 zu erkennen, dass den Schülern Holzstäbchen zur Verfügung gestellt worden sind, mit denen sie – den Vorgaben auf der Tafel entsprechend – unterschiedliche (silbengetrennte) Wörter sowie auch nichtsprachliche Figuren gelegt haben. Im Schulraum existiert nun also jenseits der Bücher und Hefte auch konkretes Material, mit dem die Schüler selbsttätig agieren können. Die Grundstruktur der räumlichen Einrichtung bleibt im vorliegenden Fall jedoch trotz der erkennbaren unterrichtsreformerischen Bemühungen erhalten. Es handelt sich also um einen wilhelminischen Schulraum mit reformpädagogischen Anklängen; der Unterricht setzt zwar schon auf die Selbsttätigkeit der Schüler, aber ohne deren frontale Sitzordnung zu flexibilisieren.
Erheblich tiefer greifen die raumstrukturellen Neuerungen, die in als Einrichtung insgesamt reformpädagogisch ausgerichteten Schulen wie etwa den Daltonplanschulen oder den Lebensgemeinschaftsschulen (s. Abb. 8 und 9) zu beobachten sind. Im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Schule und Welt, von Schule und Leben, von Schule und Zuhause können diese reformpädagogischen Schulräume in gewisser Weise als Rückkehr zu Elementen des vormodernen Schulraums interpretiert werden. Dies betrifft zuvorderst die Wohnlichkeit des Schulraums, dessen Bestimmung als Zuhause. Zwar gibt es kein Zurück zum vormodernen Verständnis der Schule als Haus des Schulmeisters, aber im Unterschied zum nüchtern-militärischen Lehrraum der preußischen Moderne soll der Schulraum doch Lebensgemeinschaftsraum sein. Im Unterschied zum vormodernen Schulraum wird die Gemeinschaft allerdings nicht mehr patriarchalisch-familial, sondern kollektiv gedacht; der Schulraum wird als Raum des Kollektivs aus Lehrern und Schülern konzipiert. Programmatisch steht hierfür folgende Passage aus dem Schulprogramm der KPD von 1925 (zit. n. Michael/Schepp, 1993, 273): »Der Grundtypus der Schulanstalt ist das Schulheim, nicht die Unterrichtsanstalt. Das Schulheim gewährt jedem Schüler unentgeltliche Behausung, Ernährung, Kleidung, Lernmittel und ärztliche Pflege, auch während der Ferien; Schüler, Lehrer und Angestellte des Schulheimes bilden die Schulgemeinschaft. Die Schulgemeinschaft ordnet ihre inneren Angelegenheiten auf dem Wege der Selbstverwaltung.« Ein konkretes Beispiel für die Umgestaltung des Schulraums zu einem Lebensgemeinschaftsraum in den 1920er-Jahren ist Willy Steigers »S’blaue Nest« an der Volksschule Dresden-Hellerau. Johannes Bilstein (2003) macht an diesem Beispiel deutlich, dass der Schulraum dort zur von den Kindern selbst hergestellten Heimat werden und damit diese zugleich zu einer anderen Arbeits- bzw. Lernweise zwingen soll, weg vom Drill, hin zu Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Insofern ist der reformpädagogische Schulraum eben kein einfaches Zurück zum vormodernen Raum. Zwar wird die Wohnlichkeit des Schulraums wieder bejaht, aber auf eine neue Weise: Der Schulraum ist nicht mehr die Wohnung bzw. das Haus des Lehrers, sondern das Heim der Schulgemeinschaft.
Abbildung 7
Wilhelminischer Schulraum mit reformpädagogischem Element (1908)
Quelle: Alt, 1965, 605
Abbildung 8
Daltonplanschule (1923)
Quelle: Steinhaus, 1925, Titelbild
Abbildung 9
Lebensgemeinschaftsschule (Weimarer Zeit)
Quelle: Arbeitsgruppe Pädagogisches Museum, 1983, 33
Auch im Hinblick auf die Frage des Bezugs zwischen Schulraum und außerschulischer Welt sind in reformpädagogischen Schulräumen Elemente auszumachen, die vormodernen Modellen wie etwa Naturalienkabinett oder Denklehrzimmer ähneln. Beispiele hierfür sind die im Sinne der Arbeitsschulbewegung eingerichteten Räume, die Räume der Berliner und Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, in denen Werkbänke ebenso Einzug halten wie lebende Tiere und Pflanzen: »Treppenhaus, Flure und Klassenzimmer sind mit Grünpflanzen geschmückt, in einigen Klassen werden eigene Tiere gehalten, die man auf Exkursionen gefangen oder geschenkt bekommen hat« (Rödler, 1987, 242).
Für das reformpädagogische Schulhaus insgesamt gibt es, sieht man von der spezifischen Bauweise der Waldorfschulen ab, vergleichsweise wenige Beispiele, vollzieht sich die Reform doch eher in einzelnen Klassen als in ganzen Schulen und eher in der Umgestaltung des Innenraums als in Neubauten. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient Bruno Tauts 1927 entstandener Bauplan zur für 3000 Schüler vom Kindergarten bis