und aus dieser reflektierten Selbstbewusstheit heraus können sie auf die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern zugehen.
Es ist auch wichtig, dass Lehrkräfte über eine hohe systemische Diagnosekompetenz verfügen, um die Bedingungen der Schülerinnen und Schüler analysieren und einbeziehen zu können. Des Weiteren müssen sie die Kontextbedingungen ihrer Schule analysieren können und bei ihren Planungen berücksichtigen. Für beide Aspekte ist die kollegiale Reflexion von großer Bedeutung.
ANKERPLATZ | |
Die Betrachtungsweise von Unterricht hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Ausgehend von Kounin, der sich Ende der 1960er-Jahre im Rahmen seiner Studien zu Klassenführungskompetenzen auf die tiefer liegenden Faktoren wirksamen Unterrichtens konzentrierte, verschob sich der Fokus von der Lehrkraft auf die Schülerinnen und Schüler. Verantwortungsübernahme und Selbstorganisation wurden zum Thema. Es wurde offensichtlich, dass es im lernseitig orientierten Klassenzimmer und Schulhaus einer vertrauensvollen und fürsorglichen Kommunikation bedarf. Hattie listet in seiner 2009 erschienen Studie viele Gelingensfaktoren wirksamer Klassenführung auf. Heute geht man davon aus, dass Basisdimensionen respektive Tiefenstrukturen die Unterrichtsqualität definieren. Zu diesen Tiefenstrukturen zählt Klassenführung. Das Angebots-Nutzungs-Modell von Helmke macht das Wechselgeschehen des Unterrichts deutlich: Die Lehrkraft beeinflusst ihr Unterrichtsangebot und steuert die Lernaktivität unter Berücksichtigung des familiären und außerschulischen Kontexts sowie des Lernpotenzials der Schülerinnen und Schüler. |
2.2Die Tiefenstrukturen des Unterrichts
ORIENTIERUNGSPUNKTE FÜR DIE REISE | |
Tiefenstrukturen: Kognitive Aktivierung – Konstruktive Unterstützung – Klassenführung – Entscheidungen für die eigene Klassenführung |
Das Verständnis von Klassenführung, das diesem Buch zugrunde liegt, basiert auf dem Konzept der Tiefenstrukturen von Unterricht. Für uns wird Klassenführung erst zum nutzbaren Instrument, wenn sie sich auf die konstruktive Unterstützung der Selbstregulation der Schülerinnen und Schüler bezieht und sich im Rahmen einer kognitiv aktivierenden Gestaltung des Unterrichts bewegt. Teil davon ist unabdingbar die Beziehungsgestaltung, denn dadurch wird das soziale Wesen «Mensch» überhaupt aktiviert. Das ist der Zweck unserer Reise: die Schülerinnen und Schüler in der Tiefe ihrer Lernprozesse zu erreichen und zu unterstützen.
Es braucht eine gemeinsame Sprache, damit wir uns unterwegs verstehen. Bevor wir die Segel setzen, soll genau geklärt sein, was wir unter Klassenführung und Selbstregulation als Basis erfolgreichen Lernens verstehen. Zur Orientierung auf dem Segeltörn mit der Klasse dient eine Seekarte. Die Karte bildet Aspekte lernwirksamen Unterrichts ab und zeigt ihren Bezug zueinander auf. Seekarten dienen der Orientierung: Sie weisen auf Untiefen, Sandbänke und Eisberge, Leuchttürme, Fahrrinnen und Hafeneinfahrten hin, damit Sie als Kapitänin oder Kapitän sicher navigieren.
Mit unserer Seekarte können Sie sich auf der Reise orientieren, wenn es darum geht, die eigene Klassenführung zu finden und zu installieren. Diese Karte kann Ihnen als Reisebegleiter dienen, um darin zu lesen, welche Aspekte sie wann ansteuern oder vertiefen wollen und welche Vernetzungen hilfreich sein können. Die einzelnen Aspekte werden dann in den folgenden Buchabschnitten näher beleuchtet.
Basisdimensionen des Unterrichts: Tiefenstrukturen
«Effiziente Klassenführung ist nicht alles, aber ohne sie geht alles andere gar nicht.»[24] Das Zitat stammt von Andreas und Tuyet Helmke. Sie verweisen damit auf einen Umstand, den wir in Abschnitt 2.1 ab hier beschrieben haben: Qualität von Unterricht ist multifaktoriell. Dieser Tatsache trägt das Konzept der Tiefen- und Sichtstrukturen Rechnung. Anders als Organisationsformen, Sozialformen und Methoden – also die sichtbaren Strukturen des Unterrichts – sind die Lehr-Lern-Prozesse unsichtbare, in der Tiefe wirksame Strukturen (siehe hier).[25] Die Wissenschaft beschreibt eben Unterrichtsqualität sehr übereinstimmend seit einigen Jahren durch drei hauptsächlich maßgebende Lehr-Lern-Prozesse, auch Basisdimensionen von Unterricht bzw. Tiefenstrukturen genannt:[26]
•kognitive Aktivierung,
•konstruktive Unterstützung,
•Klassenführung.
Das Lernverständnis, das mit dem Konzept der Tiefenstrukturen einhergeht, ist ein konstruktivistisches: Lernen ist ein aktiver, konstruierender Prozess. Es geht wortwörtlich um eine Aus-einander-Setzung mit dem Stoff. Danach richtet sich Unterrichtsplanung und -angebot. Der Weg führt immer weiter weg von der vielzitierten Vorstellung des «Nürnberger Trichters», weg vom bloßen Eintrichtern des Stoffes hin zu seiner Zerlegung, der Anknüpfung an Vorwissen, zu seiner Integration in Lernnetze und seiner reflektierten, verbalisierten Neuzusammensetzung. Für dieses eigene Tun der Schülerinnen und Schüler braucht es entsprechend vertiefte Lerngelegenheiten, Zeit und lernförderliche Unterstützung. Um dies zu schaffen, ist es hilfreich, dass Lehrkräfte erstens ihr spezifisches Gestaltungsvermögen innerhalb jeder der drei Basisdimensionen kennen und zweitens in der Lage sind, dieses mit der jeweiligen Handlungsweise in den beiden anderen Dimensionen in Verbindung zu bringen. Unser Schwerpunkt liegt bei der Klassenführung (als Basisdimension) und bei der Unterstützung der Selbstregulation (als Zielsetzung im Bereich der konstruktiven Unterstützung). Wir ergründen die Strukturen nun so weit, als es für die Reflexion der eigenen Klassenführung hilfreich und notwendig ist.
Kognitive Aktivierung
Lernprozesse anzuregen und ihre Anknüpfung an individuell bereits vorhandenes Wissen zu fördern, steht im Fokus der Unterrichtsbemühungen einer Lehrkraft. Der Lernprozess ist im Sinne einer nach-denkenden, aktiven Auseinandersetzung mit dem Lernstoff zu verstehen. Die Leitfrage dieser kognitiven Aktivierung lautet beispielsweise: «Zu welchem Grad werden Lernende angeregt, sich aktiv mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen und sich dabei vertieft mit den Inhalten zu beschäftigen?»[27] Und in der Folge natürlich: Was wirkt aktivierend, und wie werden die kognitiven Tiefenstrategien «Verstehen», «Einordnen» und «Vernetzen» (siehe Abschnitt 4.4, hier) aktiviert? Es gibt eine lange Liste von Möglichkeiten.[28] Hier eine Auswahl:
•Problemorientierung und Handlungsorientierung wie beispielsweise
–Aufgaben mit Lebensweltbezug
–Aufgaben, die kognitive Konflikte auslösen und die Schülerinnen und Schüler überraschen
–Aufgaben, die Denk- und Lernstrategien fördern
•Aktivieren von Vorwissen
•Nachvollziehen von (auch falschen) Schülerantworten («Wie kommst du darauf?»)
•Das «intelligente Üben» und das «sinnstiftende Kommunizieren» aus Hilbert Meyers 10-Punkte-Katalog
•Klassengespräche, die ein ko-konstruktives Muster verfolgen: dialogische Gespräche, die kognitive und metakognitive Strategien zum Inhalt haben und alle Beteiligten einbeziehen, ja einen Diskurs unter Schülerinnen und Schüler zum Ziel haben. Damit ist nicht das Frage-Antwort-Spiel zwischen Lehrkraft und Klasse gemeint, in dem die Schülerinnen und Schüler nur die «richtigen» Stichworte