Merkmal der schweizerischen Kinder- und Jugendhilfe bzw. des schweizerischen Kindesschutzsystems ist das Zusammenspiel von Fachdiensten (Kinder- und Jugendhilfediensten, Sozialdiensten) einerseits und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) andererseits. Abklärungen des Kindeswohls werden sowohl von Fachdiensten (Kinder- und Jugendhilfediensten, Sozialdiensten) als auch von Kindes-und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) durchgeführt.
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) führen Abklärungen des Kindeswohls generell «von Amts wegen» durch (Art. 446 ZGB). Sie sind mit weitreichenden Kompetenzen und Machtmitteln ausgestattet. Unter anderem können sie eine Abklärung auch gegen den artikulierten Willen der Sorgeberechtigten anordnen. In diesem Fall gilt für die Eltern eine Mitwirkungspflicht. In Bezug auf die Organisation der Abklärungen unterscheiden sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB). Einige KESB führen eigene (sogenannte interne) Abklärungsdienste. Die knappe Mehrheit der insgesamt 147 Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden der Schweiz delegieren Abklärungsaufgaben ganz oder teilweise an externe Fachdienste wie zum Beispiel Kinder- und Jugendhilfedienste, Sozialdienste und andere externe Stellen (Rieder et al. 2016, S. 47f.). Dazu können auch gewerbliche Anbieter zählen.
Kinder- und Jugendhilfedienste und Sozialdienste führen Abklärungen als eine auf Dauer gestellte Leistung im Rahmen ihres jeweils eigenen Leistungsauftrags durch, der auf der Ebene der Kantone bzw. Gemeinden festgelegt ist. Auch diese Abklärungen beziehen sich typischerweise auf Fragen der Gewährleistung des Kindeswohls, daraus abzuleitende Unterstützungsbedarfe und angemessene Antworten auf gegebenenfalls festgestellte Gefährdungslagen. Wird im Rahmen solcher Abklärungen ein Unterstützungsbedarf festgestellt, mündet die Abklärung typischerweise in die Vorbereitung eines Leistungsentscheids. Nicht selten werden auf diese Weise auch Entscheide über Leistungen vorbereitet, die einen erheblichen Eingriff in die Lebenssituation des Kindes und der Familie bedeuten (z. B. Sozialpädagogische Familienbegleitung, Sozialpädagogische Tagesstrukturen, Heimerziehung, Familienpflege und andere ergänzende Hilfen zu Erziehung). Dieser Prozess wird an vielen Orten auch als Indikationsstellung bezeichnet. Durch die Einbettung der Abklärung und des ausführenden Fachdienstes in den Rahmen kantonalen Verwaltungsrechts und kommunaler Bestimmungen zu Angeboten für Kinder, Jugendliche und Familien kann es sich dabei ausschliesslich um Leistungen handeln, die im Einvernehmen mit den Eltern vereinbart werden.
Abklärung in Leistungsverwaltungen und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB)
Verfahrenskontext | Kantonale/kommunale Leistungsverwaltungen (freiwilliger Kindesschutz) | Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) (zivilrechtlicher Kindesschutz) |
Anlass der Abklärung | Hinweise auf Gefährdung des Wohls eines Kindes oder auf Unterstützungsbedarf an einen kantonalen/kommunalen Fachdienst. Solche Hinweise können Mitarbeitende eines Fachdienstes aufgrund der Zusammenarbeit mit einem Kind / einer Familie selbst wahrnehmen oder sie werden von Kindertagesstätte, Schule, Kindergarten oder Einzelpersonen an einen Fachdienst herangetragen. Im Rahmen geltender Melderechte und -pflichten entscheiden Fachdienste, ob sie eine Abklärung selbst durchführen oder ob sie den Fall per Gefährdungsmeldung an eine KESB weitergeben. | Hinweise auf Gefährdung des Wohls eines Kindes an eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB). Es liegt im Ermessen der KESB, ob sie einen Hinweis als Meldung im Sinne von Art. 443 ZGB sowie geltender Melderechte und -pflichten behandelt («Gefährdungsmeldung») und ein Kindesschutzverfahren eröffnet. Sie kann darauf verzichten, ein behördliches Kindesschutzverfahren zu eröffnen, und den Fall zur weiteren Bearbeitung an einen Fachdienst weitergeben. |
Mitwirkung der Eltern | Eltern sind willens und (ggf. mit Unterstützung durch Fachpersonen) in der Lage, bei der Abklärung einer Gefährdung des Kindeswohls mitzuwirken; sie sind willens und in der Lage, bei der Wahl und Realisierung von Leistungen zur Abwendung einer im Abklärungsprozess festgestellten Gefährdung des Kindeswohls mitzuwirken (Mitwirkung im Einvernehmen). | Eltern sind nicht willens oder nicht in der Lage, an der Abklärung und Abwendung einer Gefährdung des Kindeswohls mitzuwirken. Ist ein Kindesschutzverfahren eröffnet, gilt für die Eltern eine Mitwirkungspflicht. |
Fallverantwortliche Organisation | Kinder- und Jugendhilfedienst, Sozialdienst; andere nichtbehördliche Fachdienste | Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) |
Rechtlicher Rahmen | Kantonales Recht: Kantonale und kommunale Gesetze und Verordnungen zu sozialen Fachdiensten bzw. zu sozialen Leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien, kantonales Verwaltungsverfahrensrecht | Bundesrecht: Zivilgesetzbuch (ZGB), Zivilprozessordnung (ZPO). Kantonales Recht: Kantonales Einführungsrecht zum Kindesschutzrecht, kantonales Verwaltungsverfahrensrecht |
Verfahrensrechtlicher Kontext der Abklärung | Abklärung ist integraler Bestandteil des Leistungsauftrags eines kantonalen oder kommunalen Fachdienstes (Kinder- und Jugendhilfedienst; Sozialdienst; ggf. andere nichtbehördliche Dienste). | Abklärung ist integraler Bestandteil der Ausübung zivilgesetzlichen und kantonalen Kindesschutzrechts durch eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder in deren Auftrag. |
Abklärende Dienste (Optionen) | Kinder- und Jugendhilfedienst, Sozialdienst; andere nichtbehördliche Dienste, gewerbliche Anbieter im Auftrag eines Kantons oder einer Gemeinde | Interner Abklärungsdienst einer KESB. Kinder- und Jugendhilfedienst, Sozialdienst; andere nichtbehördliche Dienste; gewerbliche Anbieter im Auftrag einer KESB |
Verhältnis abklärende Fachpersonen vs. Eltern | Einvernehmliche Arbeitsbeziehung: einvernehmliche Zusammenarbeit in Bezug auf das Ziel, Gefährdungen abzuwenden und das Wohl des Kindes zu sichern und zu fördern | Verpflichtende Arbeitsbeziehung: durch die Mitwirkungspflicht erzwungene Zusammenarbeit in Bezug auf das Ziel, Gefährdungen abzuwenden |
Rechte des Kindes | Recht auf Anhörung und Mitsprache. Art. 12 UN-Kinder-rechtskonvention ist massgebend und direkt anwendbar, auch wenn das kantonale Recht keine spezifische Regelung zur Beteiligung von Kindern enthält. | Recht auf Anhörung nach Art. 314a ZGB; Vertretung des Kindes nach Art. 314abis1 ZGB |
Abklärungstyp | Einvernehmliche Abklärung | Behördlich angeordnete Abklärung |
In einigen Kantonen ist es Praxis, dass kantonale/kommunale Fachdienste (Kinder-und Jugendhilfedienste, Sozialdienste) nicht nur Abklärungen im Rahmen ihres eigenen Leistungsauftrags durchführen, sondern auch Abklärungen im Auftrag einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB).
Der entscheidende Unterschied liegt in der rechtlichen Rahmung: Die Abklärung wird in einem speziellen Auftragsverhältnis und im Kontext des zivilrechtlichen Kindesschutzes und seiner verfahrensrechtlichen Bestimmungen ausgeführt. In formaler Hinsicht ist das ausschlaggebende Kriterium, in wessen Auftrag die Abklärung durchgeführt wird. In materieller Hinsicht ist das ausschlaggebende Kriterium die Mitwirkungsbereitschaft der Eltern. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips kommt die Anordnung einer Abklärung durch eine Kindes-und Erwachsenenschutzbehörde infrage, wenn Hinweise vorliegen, dass das Wohl eines Kindes gefährdet sein könnte und die Eltern weder willens noch in der Lage sind, an der Abklärung und einer gegebenenfalls notwendigen Abwendung der Kindeswohlgefährdung mitzuwirken.
In fachlich-methodischer Hinsicht wird sich eine Abklärung, die im Rahmen des Leistungsauftrags eines kantonalen/kommunalen Fachdienstes durchgeführt wird, von einer Abklärung, die von einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder in deren Auftrag durchgeführt wird, nicht zwingend unterscheiden. In beiden Fällen geht es um die Einschätzung der Lebenssituation des Kindes unter der gleichen Bezugsnorm «Kindeswohl»; in beiden Fällen sind viele für die Klärung von Kindeswohlfragen unverzichtbare Informationen nur im Kontakt und Austausch mit dem Kind und der Familie zu gewinnen; in beiden Fällen sind daher die Anforderungen an das methodische Vorgehen und an die professionelle Haltung der abklärenden Fachpersonen die gleichen. Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» wurde mit dem Ziel entwickelt, Fachpersonen bei der praktischen Durchführung von Abklärungsprozessen zu unterstützen, die in beiden Verfahrenskontexten angesiedelt sein können: im Kontext kantonaler/kommunaler Leistungsverwaltungen