Kay Biesel

Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung


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des Respekts gegenüber der Person verstanden werden kann). Mit dem Plädoyer für den Dialog wird also nicht einer Haltung das Wort geredet, die alles zur Disposition stellt und alles zum Gegenstand von Verhandlungen macht. Wenn abklärende Fachpersonen zu der Einschätzung kommen, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist, sagen sie dies den Eltern. Sie legen offen, auf welchen Beobachtungen ihre Einschätzung beruht, und erklären ihnen, inwiefern bestimmte Merkmale der kindlichen Lebenssituation für das Kind eine Beeinträchtigung oder Schädigung bedeuten. Sie laden sie dazu ein, gemeinsam mit den Fachpersonen über Hintergründe und Bedingungen der kindeswohlgefährdenden Zustände oder Ereignisse zu sprechen. Sie machen ihnen Mut, gemeinsam mit ihnen Schritte zur Veränderung zu überlegen, und unterstützen sie dabei. Sie erkennen an, dass es niemandem leichtfällt, Routinen oder Verhaltensweisen zu verändern. Sie erläutern den Eltern auch, welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie sich gegen die Möglichkeit entscheiden, an den notwendigen Verbesserungen der Lebenssituation des Kindes mitzuwirken. Sie informieren Kinder und Eltern über ihre Rechte wie auch über die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten von Fachdiensten und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden. Sie informieren in einer verständlichen Sprache über die Voraussetzungen zur Beschränkung elterlicher Rechte und erörtern mit den Eltern deren Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der durch das Recht definierten Grenzen (Restriktionen).

      Fachpersonen, die in ihrer Abklärungspraxis versuchen, die Potenziale des Dialogs zu nutzen, stehen dabei vor der Aufgabe, Kommunikationsformen zu finden, die dem Kind und den Eltern entsprechen. Auch wenn beim Dialog zunächst an bestimmte kultivierte Formen des Sprechens gedacht wird – eine am Dialog orientierte Abklärungspraxis ist nicht ausschliesslich auf die geschliffene Sprache verwiesen; sie wird andere, auch nicht sprachgebundene Formen nutzen, gerade dort, wo es darum geht, die Sichtweisen von Kindern einzubeziehen (vgl. Biesel 2013). Abklärende Fachpersonen, die den Dialog als besondere Form sozialer Interaktion gewinnbringend nutzen wollen, achten deshalb darauf, dass sie in einer Sprache sprechen, die möglichst verständlich, alltagsnah und respektvoll ist.

       Kindeswohlabklärung als systemische Intervention

      Wichtige Grundlagen, Haltungen und methodische Zugänge bezieht das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» auch aus dem systemischen Ansatz. Dabei handelt es sich weniger um eine klar abgrenzbare Theorie oder Handlungslehre, sondern eher um eine Tradition von Konzepten und Handlungsmodellen, die von gemeinsamen Grundannahmen ausgehen und Antworten auf grundsätzliche Herausforderungen in Beratung und Therapie zu geben versuchen (Levold/ Wirsching 2014, S. 9ff.). Sie sind inzwischen vielfach auch auf Aufgabenstellungen in der Sozialen Arbeit und der Pädagogik übertragen worden, bei denen es – ähnlich wie bei Beratung und Therapie – ebenfalls um das Anstossen von Reflexionen und das Ermöglichen von Veränderungen geht. Wichtige Grundannahmen des systemischen Ansatzes sind (vgl. Schlippe/Schweitzer 2012; Schmidt 2010; Simon 2014):

       Menschen konstruieren ihre (sozialen) Wirklichkeiten selbst, indem sie Beobachtungen und Unterscheidungen vornehmen, das Beobachtete mit Bezeichnungen (Begriffen) versehen und dadurch einordnen.

       Auf diese Weise stellen sie subjektiven Sinn her; sie erklären sich die Welt, nehmen Bewertungen vor und lassen sich von diesen Erklärungen und Bewertungen leiten.

       Wie Menschen denken, empfinden und handeln, wird vor allem durch ihre Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster bestimmt.

       Was für einen Menschen wirklich ist, was er fühlt, denkt und tut, hängt von seinem Standpunkt und seinen Wirklichkeitskonstruktionen ab.

       Was für einen anderen Menschen Realität ist und Bedeutung hat, was sein Denken und Handeln anleitet, lässt sich nur in der Kommunikation mit diesem herausfinden und klären; in solchen kommunikativen Austauschprozessen können sich die Beteiligten ihre individuellen Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster wechselseitig zugänglich machen.

       Wo Menschen kontinuierlich in solche kommunikativen Austauschprozesse einbezogen sind (Familien, Gruppen), kommt es zur Herausbildung von Überzeugungen, Handlungsstilen, Regeln und Erwartungen (Selbstorganisation, Kontexte).

       Diese können als System wahrgenommen werden, die sich von einer Umwelt unterscheiden.

       Systeme stehen in einer dynamischen Spannung von Bewahren und Verändern.

       Menschen können andere Menschen und Systeme nicht gezielt verändern, sondern ihnen allenfalls Anregungen geben und ihnen Gelegenheiten bereitstellen, sich selbst zu verändern und zu entwickeln.

       Systemische Haltung

      So abstrakt diese Grundannahmen klingen mögen – für die Abklärungspraxis im Kindesschutz bietet der systemische Ansatz Denkmodelle, die die Orientierung in anspruchsvollen Praxissituationen erleichtern, sowie bewährte methodische Konzepte und Werkzeuge (vgl. Schwing/Fryszer 2010). Diese können insbesondere zur Anbahnung und Gestaltung von Kontakten, zur Gesprächsführung und Prozessgestaltung mit Gewinn herangezogen werden. Der vielleicht entscheidende Beitrag des systemischen Ansatzes liegt jedoch in der Haltung und im professionellen Rollenverständnis, die aus den oben skizzierten Grundannahmen resultieren:

      • Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, erkennen die Eigendynamik von Systemen (z. B. der Familie) an. Sie interessieren sich für die Komplexität und Wechselwirkungen innerhalb eines Familiensystems und in den Beziehungen zwischen dem Familiensystem und seinen Umwelten. Deshalb begegnen sie den Sichtweisen aller Beteiligten mit Neugier und interessieren sich dafür, wie diese die Wirklichkeit sehen und was für sie wichtig ist. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Eltern und Kinder nicht losgelöst voneinander existieren, sondern in miteinander zusammenhängenden und voneinander abhängenden, sich gegenseitig beeinflussenden und nur schwer zu verändernden Systemzusammenhängen (vgl. Biesel/Wolff 2014, S. 17ff.). Sie wissen, dass kindeswohlgefährdende Handlungen und/oder Unterlassungen in Familien nicht auf einfache Ursachen zurückzuführen sind. Sie interessieren sich deshalb nicht allein für konkrete Vorkommnisse oder Handlungsweisen, die ein Gefährdungspotenzial aufweisen, sondern auch für die Kontextbedingungen, um von hier aus mit den Beteiligten Ansatzpunkte für Veränderungen zu erarbeiten. Sie gehen von der Annahme aus, dass Eltern mehrheitlich ein gutes Leben für ihre Kinder wollen. Deshalb thematisieren sie kindeswohlgefährdende Zustände und Ereignisse (so lange keine Fakten dagegen sprechen) unter der Hypothese, dass diese eher als Ausdruck von Momenten des Scheiterns in der Elternrolle zu verstehen sind denn als Ausfluss bewusster destruktiver Absichten oder Ausdruck individueller Pathologien. Sie ziehen in Betracht, dass Kindeswohlgefährdungen Ausdruck unbewältigter mehrgenerationaler, lebensgeschichtlicher Ereignisse und Erfahrungen sein können, die es im Kontakt und im Austausch mit Eltern und Kindern zu entziffern und zu deuten gilt (Blum-Maurice/Pfitzner 2014).1 Sie versuchen deshalb, nicht nur Eltern und Kinder an der Abklärung zu beteiligen, sondern das gesamte Familiensystem (auch die Ursprungsfamilien der Eltern), um kindeswohlgefährdende Beziehungs-, Konflikt- und Kommunikationsmuster bearbeiten zu können. Ihnen ist bewusst, dass sie Handlungsweisen und Haltungen von Eltern und Kindern nicht gezielt ändern können. Sie erkennen die Ambivalenz von Bewahren und Verändern als notwendiges Element von Veränderungen an und wissen, dass Menschen Sicherheit brauchen, um das Wagnis von Veränderungen einzugehen. Sie wissen, dass Widerstände und Rückfälle Teil aller Veränderungsprozesse sind, und versuchen, möglichst produktiv mit diesen umzugehen (vgl. Grabbe 2011).

      • Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, gestalten Abklärungsprozesse unter dem übergreifenden Ziel, Klärungen in Familien herbeizuführen und Veränderungen im Interesse des Kindeswohls zu ermöglichen. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Abklärungen Ko-Produktionen sind und der aktiven Mitwirkung von Eltern und Kindern bedürfen. Sie reflektieren deshalb die Auswirkungen, die eine Abklärung auf Eltern und Kinder hat, und sind besonders sensibel für das Risiko, im Prozess der Abklärung in Familien «hineingezogen» zu werden. Sie fokussieren nicht nur auf Defizite und Probleme von Eltern und Kindern, sondern auch auf deren vorhandene bzw. verschüttete Stärken, Ressourcen und Lösungspotenziale. Es ist ihnen bewusst, dass Fragen des Kindeswohls untrennbar mit Fragen der sozialen Teilhabe von Eltern und Kindern verknüpft