ihre Eindrücke und Gefühle, ihre Vermutungen und Hypothesen fortlaufend. Hierfür nutzen sie unterschiedliche Reflexions-gefässe unter Beteiligung von Kolleg/innen sowie fachlichen Partnern, um neue Sichtweisen zu erhalten, Hypothesen zu korrigieren und auf Fehlinterpretationen aufmerksam gemacht zu werden. Sie sind offen für Kritik und offen für ein Lernen aus Fehlern; sie haben Interesse an alternativen Deutungen und Wahrnehmungen und sind dazu in der Lage, bereits geplante Vorgehensweisen und antizipierte Entscheidungen wieder infrage zu stellen, wenn neue Gesichtspunkte dies erfordern.
5 Verantwortung
Das Prozessmanual unterstützt abklärende Fachpersonen dabei, auf der Grundlage gesammelter Informationen und Eindrücke zu begründeten Einschätzungen darüber zu gelangen, welche Schritte notwendig sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern. Eine Bedingung für eine gelingende Anwendung des Prozessmanuals ist, dass geklärt und den abklärenden Fachpersonen während ihres Handelns im Abklärungsprozess stets präsent ist, wer in welchen Schlüsselprozessen wann und warum für die Realisierung welcher Abklärungsaufgaben verantwortlich bzw. zuständig ist und dass diesbezüglich aktiv die Verständigung mit anderen beteiligten Behörden und Diensten gesucht wird.
6 Dokumentation
Fachpersonen dokumentieren die Informationen, die sie im Abklärungsprozess in Erfahrung bringen bzw. einholen, zeitnah. Dabei unterscheiden sie zwischen eigenen Beobachtungen, Informationen des Kindes und der Familie, Informationen von Dritten, Interpretationen und Bewertungen. Sie gehen mit personenbezogenen Informationen sorgfältig und respektvoll um und dokumentieren nur solche Informationen und Einschätzungen, die für die Abklärungsaufgabe relevant sind. Dokumentationen sollen sicherstellen, dass Einschätzungen und Empfehlungen nicht willkürlich oder einseitig, sondern fundiert, nachvollziehbar und plausibel zustande kommen. Dazu ist es auch sinnvoll, festzuhalten, welche Informationen auf welchen Quellen basieren, zu welchen Schlussfolgerungen sie geführt und zu welchen Entscheidungen sie bei der Planung des Vorgehens veranlasst haben.
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Grundlagen und Praxisprinzipien
2.1 Grundlagen dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung
Von abklärenden Fachpersonen wird erwartet, dass sie zu zuverlässigen Einschätzungen des Kindeswohls und im Fall einer Kindeswohlgefährdung zu klaren Empfehlungen hinsichtlich angemessener Antworten kommen. Sie sollen gewissermassen Sicherheit und möglichst viel Eindeutigkeit herstellen – und dies in einem Feld, in das Ungewissheit und Unsicherheit unauflöslich eingeschrieben sind (vgl. Alberth et al. 2010). Ungewissheit ist für jede Abklärungspraxis im Kindesschutz kennzeichnend; zum einen, weil eine Gefährdung des Kindeswohls keine «beobachtbare Sache» ist, sondern die Bewertung eines komplexen Geschehens, das eingebettet ist in Eltern-Kind-Beziehungen und Familienbeziehungen; zum anderen, weil der Gegenstand der Beurteilung sich nicht in Handlungen oder Unterlassungen erschöpft, sondern deren in der Zukunft liegende Auswirkungen auf das Kind einschliesst (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 28ff.). Gleichwohl bleibt die Aufgabe bestehen, auf der Grundlage von Beobachtungen, Informationen und Deutungen plausible und nachvollziehbare Einschätzungen darüber vorzulegen, inwieweit das Wohl eines Kindes gesichert ist – und wie es nachhaltig gesichert werden kann.
Auf diese komplexen und widersprüchlichen Handlungsanforderungen gilt es, konzeptionelle Antworten zu finden, die abklärenden Fachpersonen Orientierung bieten, indem sie Zielsetzungen und Vorgehensweisen in einen plausiblen Zusammenhang bringen. Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» steht in der Tradition solcher Konzeptualisierungen von Abklärungspraxis im Kindesschutz. Es versteht sich als zeitgemässer Entwurf, der die von Forschung und Praxis gleichermassen vorgetragene Kritik an früheren Konzeptualisierungen aufnimmt. Es grenzt sich von einem alten investigativen und bestrafenden Kindesschutz ebenso ab wie von einem prozeduralistisch oder technologisch verkürzten (Department for Education 2011; Gilbert/Parton/Skivenes 2011a). Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der internationalen Fachdiskussion, die der Beziehung, der Kommunikation und der Zusammenarbeit im Kindesschutz neue und erweiterte Bedeutung zuweisen, entwickelt worden (Calder/Archer 2016; Department for Education 2011; Featherstone/White/Morris 2014). Solch neuere Ansätze plädieren darüber hinaus für eine stärker an der Eltern-Kind-Beziehung ansetzende Kindesschutzpraxis und grenzen sich von Abklärungspraxen ab, die sich entweder auf die Eltern oder auf das Kind konzentrieren (Barlow/Scott 2010). Eine wichtige Grundannahme des im Prozessmanual verankerten Konzepts dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung ist, dass Qualität und Wirksamkeit im Kindesschutz zu einem erheblichen Teil durch die Qualität der Zusammenarbeit bestimmt werden und zwar insbesondere durch
die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen, Eltern und Kindern sowie
die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen und verschiedenen im Kindesschutz tätigen Organisationen (vgl. Amt für Soziale Dienste Bremen 2009; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011).
Vor diesem Hintergrund nehmen Prämissen und Konzepte des Dialogs, des systemischen Arbeitens, der wachsamen Sorge und des diagnostischen Fallverstehens im Prozessmanual Schlüsselpositionen ein.
Kindeswohlabklärung als dialogischer Prozess
Im Konzept der dialogisch-systemischen Kindeswohlabklärung wird unter einem Dialog eine Interaktionsform verstanden, die nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann (vgl. Bohm 1998; Isaacs 2002). Ein Dialog entsteht in Gesprächen, die geprägt sind von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt. Vereinfacht gesprochen soll der Dialog einen offenen Austausch zwischen abklärenden Fachpersonen sowie Eltern und Kindern begünstigen, wobei der gemeinsame Gegenstand und Referenzpunkt das Wohl des Kindes ist. Der Dialog wird hier als Möglichkeit betrachtet, auch kontroverse und konfliktreiche Themen offen zu bearbeiten, mit denen bei Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu rechnen ist. Eine dialogische (Gesprächs-)Haltung unterstützt einen Prozess, in dem abklärende Fachpersonen sowie Eltern und Kinder sich trauen, offen anzusprechen, was sie wahrnehmen, denken und fühlen. Sie will die offene und konstruktive Thematisierung unterschiedlicher Ansichten und Meinungen ermöglichen. Der Dialog will zwischenmenschliche Begegnungen anregen, die auf Augenhöhe stattfinden und wechselseitiges Verstehen ermöglichen. In einem Dialog werden Differenzen als gegeben angenommen. Die eigenen und die Annahmen der anderen werden hinterfragt, ohne die andere Seite anzugreifen oder zu widerlegen. Er ist darauf angelegt, gemeinsame Denkprozesse anzuregen und zu ermöglichen (vgl. Isaacs 2002, S. 44ff.).
Fachpersonen, die sich in der Abklärungspraxis am Dialog orientieren und versuchen, dessen Potenziale auszuschöpfen, wenden sich Kindern und Eltern zu, hören ihnen zu und interessieren sich für ihre Sichtweisen auf die Alltags-, Beziehungs- und Erziehungspraxis. Sie suchen aktiv das Gespräch mit ihnen und schaffen Gelegenheiten, die dazu geeignet sind, unterschiedliche Erlebens- und Sichtweisen, Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Motive der Beteiligten zur Sprache zu bringen. Sie gestalten Settings, die es möglich machen, unterschiedliche Wissensformen und Perspektiven (das Erleben des Kindes, die Erfahrungen und Glaubenssysteme der Eltern, das Fachwissen der Fachpersonen) und unterschiedliche Urteilsformen (subjektive Urteile, fachliche Urteile, normative Leitorientierungen, im Recht verankerte Normen) zu thematisieren und aufeinander zu beziehen. Sie gehen vorurteilsfrei, ergebnisoffen und risikoreflektiert vor, nehmen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten wahr und gehen mit diesen produktiv um. Sie legen Rollen- und Machtunterschiede sowie Abhängigkeiten, Ängste und Sorgen offen, erkennen sie an und machen sie zum Bestandteil ihrer Arbeit. Sie ermöglichen Beteiligung und fordern diese ein und erhöhen damit die Chancen für Begegnung, Beziehung und Veränderung.
Dialogische Haltung
Das Konzept dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung plädiert für eine Gestaltung von Arbeitsbeziehungen auf Augenhöhe. Augenhöhe wird dabei verstanden als bildhafter Ausdruck für eine wertschätzende und von Respekt getragene Arbeitsbeziehung. Es ist Ausdruck einer dialogischen Haltung, wenn abklärende Fachpersonen normative Positionen in Bezug auf gewaltsame, verletzende und schädigende Erziehungspraxen und Beziehungsstile im Eltern-Kind-Verhältnis klar aufzeigen. Kommunikation auf Augenhöhe bedeutet in diesem Zusammenhang, dass über