Kay Biesel

Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung


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Kindesschutz). Allerdings wurde davon ausgegangen, dass sowohl Abklärungen im Pflichtkontext als auch Abklärungen in Fällen vermuteter manifester Gefährdungen des Kindeswohls (Misshandlung, Unterversorgung) mit gesteigerten Anforderungen an die Professionalität und an das methodische Vorgehen verbunden sind. Bei der Entwicklung des Prozessmanuals wurde deshalb versucht, Empfehlungen zum fachlichen Vorgehen bei der Durchführung von Kindeswohlabklärungen zu erarbeiten, die Fachpersonen darin unterstützen, auch bei solchen gesteigerten Anforderungen professionell im Interesse des Wohls von Kindern und Familien zu handeln.

       Was sind Ergebnisse von Kindeswohlabklärungen?

      Kindeswohlabklärungen dienen der Vorbereitung von Entscheiden. Vereinfacht gesprochen wird aus der Einschätzung von Gefährdungslagen und ihren Kontextbedingungen ein Unterstützungsbedarf abgeleitet; auf dieser Grundlage können Fachpersonen unter Einbezug wissenschaftlichen Wissens und Erfahrungswissens schlussfolgern, welche Interventionen (Leistungen, Ressourcen etc.) erforderlich und geeignet sind, damit allfällige Gefahren und Gefährdungen abgewendet und Unterstützungsbedarfe gedeckt werden können sowie das Kindeswohl gesichert und gefördert werden kann. Diese Leistungen können entweder im Einvernehmen mit den Eltern vereinbart oder aber, falls die Eltern einer zur Abwendung von Gefährdungen des Kindeswohls erforderlichen Leistung nicht zustimmen, gegen den artikulierten Willen der Eltern angeordnet werden. Zur Aufgabe, auf eine erforderliche und geeignete Leistung zu schliessen, tritt somit die Aufgabe, zu einer begründeten Einschätzung darüber zu kommen, ob eine notwendige Leistung mit den Eltern vereinbart werden kann oder ob sie angeordnet werden muss. Stimmen die Eltern der Leistung zu und sind sie bereit und in der Lage, an deren Realisierung mitzuwirken, kann die Leistung im Einvernehmen mit den Eltern vereinbart werden. Stimmen die Eltern einer zur Abwendung von Gefährdungen des Kindeswohls erforderlichen Leistung nicht zu und sind sie weder bereit noch in der Lage, an ihrer Realisierung mitzuwirken, kann die Leistung durch die Kindes- und Erwachsenenbehörden angeordnet werden. Die Kompetenz zur Anordnung geeigneter und erforderlicher Leistungen liegt ausschliesslich bei den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB). Zusätzlich oder alternativ zu Leistungen kann die KESB ausserdem Kindesschutzmassnahmen anordnen: Mahnungen, Weisungen, Erziehungsaufsicht und weitere Massnahmen (Art. 307 ZGB), Beistandschaft (Art. 308 ZGB), Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts (Art. 310 ZGB) und die Entziehung der elterlichen Sorge (Art. 311, 312 ZGB). Zusammenfassend lässt sich sagen: Kindeswohlabklärungen dienen der Vorbereitung von Entscheiden über angemessene Antworten auf Lebenssituationen von Kindern und Familien, in denen zum Schutz des Kindeswohls Unterstützungsleistungen sowie gegebenenfalls Eingriffe in die elterliche Autonomie erforderlich sind. In anderen Worten: Kindeswohlabklärungen zielen auf die begründete Empfehlung von Leistungen und/oder Kindesschutzmassnahmen:

       Ergebnisse von Kindeswohlabklärungen: Leistungen und/oder Kindesschutzmassnahmen

Vereinbarte LeistungenLeistungen, die im Einvernehmen mit den Eltern vereinbart und unter Mitwirkung der Eltern und des Kindes umgesetzt werden (vereinbarte Leistungen). Dabei kommen primär Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe infrage und hier mit grosser Häufigkeit Leistungen aus dem Spektrum der ergänzenden Hilfen zu Erziehung (Heimerziehung, Familienpflege, Sozialpädagogische Familienbegleitung, Sozialpädagogische Tagesstrukturen). Mitunter werden als Ergebnis von Abklärungen auch Empfehlungen zu Leistungen aus anderen Versorgungssystemen ausgesprochen (Gesundheits-, Bildungs-, Sozialsystem).
Angeordnete LeistungenLeistungen, die durch eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde angeordnet werden, bzw. eine behördliche Weisung zur Inanspruchnahme einer Leistung auf der Grundlage von Art. 307 ZGB. Das Spektrum an Leistungen ist dabei prinzipiell offen («Geeignete Massnahmen», Art. 307 ZGB). In der Praxis handelt es sich überwiegend um die oben bereits genannten Leistungen.
Kindesschutzmassnahmen nach ZGBKindesschutzmassnahmen: Beistandschaft (Art. 308 ZGB), Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts (Art. 310 ZGB), Entziehung der elterlichen Sorge (Art. 311, 312 ZGB) bzw. weitere Kindesschutzmassnahmen nach ZGB

      1.2 Ziele und Aufbau des Prozessmanuals

      Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist mit dem Ziel konzipiert worden, Fachpersonen in unterschiedlichen Abklärungskontexten bei der Umsetzung von Abklärungsaufgaben Orientierung zu bieten und sie anzuleiten.

      Es soll abklärende Fachpersonen dabei unterstützen,

      • elementare Versorgungs-, Pflege-, Entwicklungs-, Bindungs- und Kommunikationsbedürfnisse gefährdeter und/oder misshandelter Kinder innerhalb und ausserhalb familialer Settings sicherzustellen,

      • auf der Basis differenzierter und begründeter Einschätzungen darauf zu schliessen, welche Leistungen und/oder Kindesschutzmassnahmen erforderlich und geeignet sind, um Gefährdungen des Wohls von Kindern abzuwenden und deren Wohl bestmöglich und nachhaltig zu fördern,

      • Fehleinschätzungen zu verringern und unverhältnismässige Eingriffe in die Familienautonomie ebenso zu vermeiden wie unnötige, ungeeignete, aber gleichwohl kostenintensive Leistungen.

      Es kann zudem dazu herangezogen werden, um zwischen abklärenden Diensten und KESB Schnittstellen, Fragen der Zusammenarbeit und der Arbeitsteilung zu klären und Standards für Abklärungen im Kindesschutz miteinander zu erarbeiten und zu vereinbaren.

      Das Prozessmanual ist eine forschungsbasierte und in der Praxis erprobte Wegleitung, die eine umfassende praxisbezogene Orientierung für das konkrete Vorgehen in Abklärungsprozessen im Kindesschutz bieten will. Dazu werden verschiedene für die Abklärung von Kindeswohlgefährdungen relevante Schlüsselprozesse definiert. Diese Schlüsselprozesse beziehen sich auf generische Komponenten von Abklärungsprozessen, die in je unterschiedlichen Gewichtungen und mit je unterschiedlichen Anforderungen in Abklärungsprozessen vorkommen können – unabhängig davon, ob sie im Kontext des Leistungsauftrags von Kinder- und Jugendhilfediensten, Sozialdiensten oder anderen Fachdiensten nach kantonalem Recht durchgeführt werden oder im Kontext des zivilgesetzlichen (behördlichen) Kindesschutzes durch oder im Auftrag einer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB).

       Schlüsselprozesse zur dialogisch-systemischen Kindeswohlabklärung

      Ersteinschätzung

      Hinweise auf Gefährdungen des Kindeswohls entgegennehmen und einschätzen

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      Kindeswohleinschätzung

      Zur Einschätzung des Grads der Sicherheit und Grundversorgung des Kindes mit dem Kind, seiner Familie und weiteren Fachpersonen Kontakt aufnehmen

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      Sofortmassnahmen

      Sofortmassnahmen für das gefährdete Kind und seine Familie besprechen, organisieren und einleiten

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      Kernabklärung

      Die Gewährleistung des Kindeswohls mit dem Kind, seiner Familie und weiteren fachlichen Partnern wahrnehmen, erkunden und verstehen

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      Bedarfsklärung

      Handlungsempfehlungen und einen Plan zur Förderung und Sicherung des Kindeswohls mit dem Kind, seiner Familie und weiteren fachlichen Personen entwickeln

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      Ergebnisklärung

      Ergebnisse der Abklärung dem Kind und seiner Familie aufzeigen und ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme geben

      Die Schlüsselprozesse werden aus Gründen der Trennschärfe und Übersichtlichkeit in einer linearen Reihenfolge vorgestellt. Um der Einmaligkeit und Komplexität von Kindesschutzfällen in der Abklärungspraxis gerecht zu werden, können sich die einzelnen Schlüsselprozesse in der Umsetzung teilweise stärker überschneiden oder andere Abfolgen erfordern; auch kann es nötig werden, Schlüsselprozesse aufgrund dynamischer Entwicklungen zu wiederholen. Mit der sequenziellen Darstellung der sechs Schlüsselprozesse wird somit keine starre Reihenfolge postuliert, auch wenn viele Abklärungen im Kindesschutz mit einer Ersteinschätzung beginnen.