zu sichern und zu fördern (vgl. Hosemann/Geiling 2013, S. 29ff.)
Kindeswohlabklärung als wachsames Sorgen
Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, übernehmen einen wichtigen Teil staatlicher Schutzpflichten gegenüber Kindern (vgl. Rosch/Hauri 2016b). Sie klären, ob Voraussetzungen vorliegen, die ein (staatliches) Eingreifen zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich machen. Sie erarbeiten fallspezifische Antworten auf die Fragen, welche Leistungen erforderlich und geeignet sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern und ob zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen notwendig sind. Fachpersonen, die Abklärungen nach dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» vornehmen, werden diese Schutzfunktion, ihre Rolle und ihren Auftrag (z. B. im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Behörden und abklärendem Dienst) gegenüber den Eltern in einer für diese verständlichen Sprache klar zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig werden sie alles dafür tun, die Eltern zur Zusammenarbeit im Interesse des Kindeswohls zu gewinnen.
Die Wahrnehmung, dass ein Kind oder ein/e Jugendliche/r vor Gefährdungen ihres/seines Wohls geschützt werden muss, darf nicht zum Abbruch der Arbeitsbeziehung mit den Eltern führen. Vielmehr sind Fachpersonen im Kindesschutz darauf verwiesen, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung zu den Eltern aufzubauen, um Veränderungen im Familiensystem anstossen zu können. Wenn diese keine Aussicht auf Erfolg haben und Eingriffe in Elternrechte zum Schutz des Kindes mittels zivilrechtlicher Kindesschutzmassnahmen erforderlich sind, zögern sie nicht, diese einzuleiten. In der Wahrnehmung des Schutzauftrags und durch das professionsethische Postulat der Aufrichtigkeit sind abklärende Fachpersonen dazu verpflichtet, Eingriffsschwellen und die normativen Positionen, die sie begründen, gegenüber den Eltern möglichst klar zu kommunizieren.
Eine Haltung, die den Schutzauftrag mit der Verpflichtung auf den Vorrang «freiwilliger», den Eltern angebotener und mit ihnen vereinbarter Leistungen verbindet und deshalb Kontakte und Gespräche im Rahmen eines Abklärungsprozesses am Ziel, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung herzustellen, orientiert, entspricht sowohl den im Recht verankerten Prinzipien der Subsidiarität, Komplementarität und Proportionalität (vgl. Rosch/Hauri 2016, S. 411f.) als auch anerkannten Theorien und Konzepten der Sozialen Arbeit (Dewe/Otto 2010; Thiersch 2014). Sie entspricht darüber hinaus zukunftsweisenden Kindesschutzmodellen, mit denen versucht wird, das Wohl von Kindern, Eltern/Familien und dem Gemeinwesen gleichermassen im Blick zu haben und mit Angeboten, Leistungen und Massnahmen in ihrem Wohl gefährdete Kinder und Jugendliche nicht nur zu schützen, sondern sie und ihre Eltern zu fördern und in ihrer Entwicklung partnerschaftlich zu begleiten (Gilbert/Parton/ Skivenes 2011b; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011; Wolff et al. 2013, S. 27).
Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» will Haltungen und Handlungsweisen stärken, die es Fachpersonen ermöglichen, die Gleichzeitigkeit von Schutzauftrag und Hilfevorrang in den anspruchsvollen Alltagssituationen der Abklärungspraxis kohärent und wirkungsvoll umzusetzen. Nützliche Orientierungen dazu können aus dem Konzept der wachsamen Sorge (vgl. Omer 2015) bezogen werden. Das Konzept ist zwar für ratsuchende Eltern entwickelt worden, kann aber auch von Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, mit Gewinn herangezogen werden. Es basiert auf der Annahme, dass Eltern eine Haltung wachsamer Sorge einnehmen sollten, um am Leben ihrer Kinder aktiv und respektvoll teilhaben zu können. Es geht davon aus, dass Eltern von ihren Kindern als Autoritäten wahrgenommen werden, wenn diese spüren, dass die Eltern bedingungslos für sie da sind und ihre Autorität nicht durch Strafen, Gewalt und Abwendung aufrechtzuerhalten suchen. Diese Form von Autorität durch Beziehung (vgl. Omer/von Schlippe 2015) kann als Modell für die Gestaltung der Beziehung zwischen abklärenden Fachpersonen und den Familienmitgliedern dienen: Auch Fachpersonen dürfen bei der Durchführung von Abklärungen nicht «mit der Brechstange» vorgehen, mit Drohungen, Ablehnungen und Abwertungen reagieren. Sie sind darauf angewiesen, von den Eltern und Kindern als Autoritäten wahr- und ernst genommen zu werden. So ist es zwar einerseits zwingend erforderlich, dass der Zugang zur Familie in der Absicht, abzuklären, ob Hinweise auf Gefährdungen des Kindeswohls begründet sind, durch das Recht gestützt ist. Eine durch das Recht gesicherte Legitimität eines Abklärungsprozesses ist eine unabdingbare Voraussetzung, sie garantiert aber keineswegs schon sein Gelingen. Abklärende Fachpersonen müssen von Eltern und Kindern aber auch als Vertrauenspersonen wahrgenommen werden, als Autoritäten, die mit Eltern und Kindern anerkennend, verantwortungsbewusst und respektvoll zusammenarbeiten – auch wenn sie Probleme, Versorgungsdefizite und Gefährdungslagen sehen. Autorität in dem hier verstandenen Sinn kann insofern nicht erworben werden, wenn Fachpersonen Eltern und Kinder im Rahmen von Abklärungen nur zum Objekt von Befragungen und Untersuchungen machen.
Formen wachsamer Sorge
Abklärungen im Kindesschutz im dialogisch-systemischen Sinn erfordern offene und flexible Herangehensweisen, die den Fachpersonen unterschiedliche Formen einer wachsamen Sorge ermöglichen – vom offenen Dialog bis zum eindeutigen Markieren von Grenzen (vgl. Omer 2015, S. 14ff.):
• Abklärende Fachpersonen lassen sich offen und neugierig auf die Lebenssituation von Eltern und Kindern ein und bringen ihnen Interesse entgegen. Sie nehmen Anteil an ihren Sorgen, Ängsten, Nöten, Hoffnungen und Träumen, ohne dabei ihren Abklärungsauftrag aus den Augen zu verlieren. Abklärende Fachpersonen legen ihren Auftrag, zu klären, ob das Wohl des Kindes gewährleistet ist, offen. Sie kommen mit Eltern und Kindern ins Gespräch über das Zusammenleben in der Familie, die Eltern-Kind-Beziehung und die Lebenssituation des Kindes. Sie zeigen Präsenz und Aufmerksamkeit (offene Aufmerksamkeit).
• Nehmen abklärende Fachpersonen Anzeichen einer Gefährdung oder Beeinträchtigung des Kindeswohls wahr, reden sie mit den Eltern und den Kindern darüber und versuchen, mit diesen herauszufinden, was Ursachen und Hintergründe vergangener und eventuell drohender kindeswohlgefährdender Zustände und Ereignisse sind (fokussierte Aufmerksamkeit).
• Bei Hinweisen, die darauf schliessen lassen, dass die Grundversorgung und die Sicherheit des Kindes oder der/des Jugendlichen nicht gewährleistet sind und somit eine manifeste Gefährdung des Kindeswohls besteht, sprechen sie dies klar und verständlich gegenüber den Eltern an. Wenn es notwendig ist, greifen sie aktiv ein und leiten Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen ein. In diesem Fall erläutern sie ihnen die Gründe ihres Handelns (Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen).2
Fachpersonen, die sich bei ihrer Abklärungspraxis am «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» orientieren, nehmen einen Schutzauftrag wahr. Sie sind sich der Risiken und Gefahren bewusst, denen Kinder in Familien ausgesetzt sein können (vgl. Wolff 2007), und versuchen so lange wie möglich, den Dialog mit Eltern und Kindern bei der Gestaltung von Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu suchen und Settings des sozialen Miteinanders zu entwerfen, die Eltern und Kinder dazu ermutigen, sich offen auf Abklärungsprozesse einzulassen. Sie scheuen aber auch nicht davor zurück, Sofortmassnahmen zum Schutz in ihrem Wohl akut gefährdeter Kinder und Jugendlicher einzuleiten.
Kindeswohlabklärung als diagnostisches Fallverstehen
Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist so aufgebaut, dass mit ihm Ansätze und Methoden des diagnostischen Fallverstehens (Heiner 2011) genutzt und auf das Handlungsfeld des Kindesschutzes übertragen werden können. In der Verbindung von «Diagnostik» und «Fallverstehen» kommt der Versuch zum Ausdruck, zwei Konzeptionen der Entscheide vorbereitender Abklärung miteinander zu verbinden, die sich in der Sozialen Arbeit lange Zeit unversöhnlich gegenüberstanden: den klassifikatorischen und den rekonstruktiven Ansatz. Der klassifikatorische Ansatz setzt auf standardisierte Erhebungs- und Auswertungsinstrumente und strebt eine möglichst eindeutige Zuordnung eines Falls unter allgemein anerkannte Kategorien an. Der rekonstruktive Ansatz setzt auf das Gespräch und den Dialog, will die subjektiven Wahrnehmungs- und Erlebensweisen von Eltern und Kindern und ihre biografische Einbettung erschliessen und sie in die Prozesse der Erarbeitung von Problembeschreibungen und darauf bezogenen Problemlösungen einbeziehen (vgl. Heiner 2011, S. 237).
Im Kindesschutz haben Verfahren und Instrumente, die dem klassifikatorischen Ansatz verpflichtet sind,