Es gibt keine Schnittstelle zwischen Sender und Empfängerin
Es gibt keine direkte Schnittstelle zwischen Mensch und Mensch. Vielmehr muss der Empfänger aus dem vom Sender angebotenen Material (verbal und nonverbal) die eigene Wirklichkeit konstruieren. Es gilt die auf den ersten Blick paradoxe Aussage der Kommunikationspsychologie:
Der Empfänger entscheidet, was gesagt wurde.
Aber der Empfänger ist nur ein Teil der Kommunikation. Es kommt natürlich darauf an, was der Sender an Material anbietet, aus dem sich der Empfänger die persönliche subjektive Wirklichkeit aufbaut. Somit gilt auch:
Der Sender beeinflusst, worüber der Empfänger nachdenkt.
Aber diese «Beeinflussung» ist sehr individuell. Der Empfänger kann Dinge komplett übersehen, andere aber hinzufügen. In der kommunikativen Praxis werden Dinge vergrößert und verkleinert. Die Skizze oben ist demnach nicht ganz richtig, der Empfänger puzzelt dort «nur» die Bauteile des Senders zusammen. Es ist aber so, dass der Empfänger die ganze persönliche Vergangenheit für die Konstruktion nutzt und benutzt. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, er kann sich «erinnern». Diese Erinnerungen sind grundlegend für künftige Konstruktionen und das persönliche Kommunikationsverhalten.
2.2 Unterschiedliche Empfänger, unterschiedliche Deutungen
Obwohl es in der Theorie klar ist, dass «der Empfänger entscheidet», überrascht die Praxis häufig. Ich bin mir sicher, dass Vorträge, Vorlesungen und der ganze Unterricht anders verlaufen würden, wenn der Sender Einblick in die Gehirne des Publikums beziehungsweise in deren Konstruktionen hätte.11
Ein leerer Tisch (Bühne) wird an einen zentralen Ort geschoben, sodass alle Zuschauenden freie Sicht haben. Die Leiterin oder der Leiter legt einen Gegenstand, zum Beispiel ein Stück Papier, auf den Tisch. Automatisch beginnt das Gehirn zu konstruieren.
Es wird nicht gesprochen. Wer einen Gedanken hat, verschränkt die Arme. Wenn alle Arme verschränkt sind, dürfen die Teilnehmenden sich äußern.
Es gibt die unterschiedlichsten Konstruktionen:
•Ich muss noch das Altpapier rausbringen.
•Ist das ein Brief?
•Wem gehört es?
•Jetzt wird etwas darauf geschrieben.
•Machen wir jetzt eine Faltübung?
•Das ist ein Rechteck.
•Das Papier liegt nicht in der Mitte des Tischs.
•Warum wird hier kein Umweltschutzpapier verwendet?
•Ein leeres Blatt.
•Ein unbeschriebenes Blatt.
•Steht auf der Rückseite etwas drauf?
•Das ist der Beginn einer Symmetrieübung. Mit einer Schere werden Formen hineingeschnitten und anschließend aufgefaltet.
•Weiße Farbe.
•Das ist ein DIN-A6-Postkartenformat.
Und so weiter.
Sehr interessant. Die (nonverbale) Äußerung bestand lediglich aus dem Hinlegen eines Stücks Papier. Der Sender hat sich vielleicht gar nichts dabei gedacht, und trotzdem wird alles Mögliche – je nach Vorerfahrung des Empfängers – konstruiert. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Sender bei vielen Antworten recht irritiert darüber ist, was man alles aus der Äußerung herauslesen kann. Man stelle sich eine Lehrperson vor, deren Klasse die Aussage interpretiert. Es wundert nicht, wenn diese mit den Worten «Das habe ich nicht gesagt!» oder «Ich habe doch ganz klar gesagt, dass …» reagiert. Tatsächlich ist eine Äußerung alles andere als klar. Auch wenn die Lehrperson sich klar ausdrücken kann: Kommunikation geschieht zwischen Lehrperson, und Lernenden und Letztere haben die Macht der Deutung.
Sie können einen Schritt weitergehen und ein bestimmtes Denken aufzwingen beziehungsweise diktieren: Etwa «schreiben», «schneiden» oder «anzünden»:
Didaktisch eine wunderbare Sache: Die meisten Zuschauenden denken jetzt ähnlich. Die Assoziation mit dem Papier ist vom Kontext, seiner Umgebung, abhängig. Und doch denken immer noch nicht alle das Gleiche. Es gibt zwei Gründe für die Unterschiedlichkeit der Konstruktionen.
Erster Grund: Uneindeutigkeit der Assoziation durch Vorerfahrung
Der Mensch ist keine triviale Maschine. Es kommt auf die Vorerfahrung der Person an. In den obigen Beispielen herrscht weitgehend Einigkeit, weil Sie als Leserin oder Leser in einem Kulturkreis aufgewachsen sind, in dem Sie unzählige Male gesehen haben, dass man mit einem Stift schreiben, mit einer Schere schneiden und mit Streichhölzern ein Papier anbrennen kann. Die Bilder docken unmittelbar an Ihre Erfahrung und Umwelt an. Wenn diese Übung mit Marsmenschen gemacht würde, kämen diese bei Papier und Bleistift wahrscheinlich auf ganz andere Gedanken. Was für Assoziationen oder Gedanken entstehen, hängt entscheidend vom Kulturkreis und der sozialen Prägung ab.
Legt die Leiterin oder der Leiter weitere Gegenstände hinzu, ist die Sache weniger eindeutig.
Die Gegenstände «er-innern»12 mich an den Modellbau mit meinem Sohn. Mit der Schere werden Hölzchen in einen Flugzeugrumpf an- und eingepasst und mit Papier anschließend verstärkt. Ich bin mir sicher, dass Sie nicht an das Einpassen eines Hölzchens in einen Flugzeugrumpf gedacht haben – das ist eine zu spezifische Erfahrung. Irgendetwas mit «Basteln» werden Sie vielleicht gedacht haben, und je nachdem, was Sie beim Basteln erlebt haben, ist Ihre Assoziation mit positiven oder negativen Gefühlen besetzt.
Das Gehirn konstruiert aus vorhandenem Wissen und persönlichen Erlebnissen zusammen mit dem vorgelegten Material eine Bedeutung.
Zweiter Grund: Unser Gehirn versucht zu vereinfachen.
Was sehen Sie hier? Was denken Sie?
Die Suche nach einer Struktur ist immer auch die Suche nach einer Vereinfachung. Einfachheit kommt vor Komplexität. Aus der scheinbar willkürlichen Anordnung vieler Dinge ist ein Chaos entstanden. Ab einer bestimmten Anzahl von Elementen beginnen wir abzuzählen. So erfassen wir eine Anzahl von vier Dingen mit einem Blick, ab fünf zählen wir nach. Auf diese Weise werden bei Strichlisten meist Fünferpäckchen zusammengefasst. Statt