Martin Kramer

Kommunikation sichtbar machen (E-Book)


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      Jede Äußerung stammt von einem Beobachter und ist somit subjektiv.13 Jeder Sender ist immer ein Beobachter.

      Man könnte grundsätzlich den Eindruck erhalten, dass der Sender sich prinzipiell klar ausdrücken kann, dass eine Art objektive Beschreibung geäußert wird. Aber auch diese Äußerung, die auf der individuellen Wahrnehmung basiert, ist letzten Endes ein Konstrukt der persönlichen Erfahrung und der Umwelt, was die folgende Übung eindrucksvoll zeigt.

      imagesÜbung 4: Sender erklärt blinder Person die Welt

      1. Vorbereitung

      Diese Übung lässt sich ab einer Gruppengröße von zirka acht Teilnehmenden durchführen. Es wird ein für die Teilnehmenden unbekannter Ort gewählt. Das kann ein Museum, eine Kirche, ein bestimmter Raum, eine Seitenstraße, eine Waldlichtung oder eine Kunstsammlung sein. Die Teilnehmenden gehen paarweise zusammen und einigen sich, wer Sender und wer Empfänger ist. Dem Empfänger werden vor der Begehung die Augen verbunden.

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      Das Ausschalten von Sinnesorganen bedeutet für den Empfänger immer auch einen Kontrollverlust. Die Person muss der anderen «blind» vertrauen. Da das Gehirn stets lernt, lernt es auch, dass man enttäuscht werden kann, wenn man vertraut. Daher ist es wichtig, dass sich die Sender ihrer Fürsorgepflicht bewusst sind. Wenn das Bewusstsein für Verantwortung in der Gruppe noch nicht ausgeprägt ist, ist diese Übung nicht zu empfehlen.

      Anschließend wird die Gruppe zu einem für sie unbekannten Ort geführt.

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      Ergänzung

      Wird der Weg schweigend zurückgelegt, ist die anschließende Übung wertvoller. Dabei reicht es, wenn die sehenden Sender nicht sprechen dürfen. Die Kommunikation «erstirbt» automatisch, wenn der Sender sich gegenüber der Blinden oder dem Blinden weder verbal noch nonverbal äußern kann.

      Das Schweigen kann durch ein Spiel beziehungsweise ein Rätsel «erzwungen» werden: Auf ein Zeichen der Führungsperson suchen sich die sendenden Personen einen neuen Empfänger. Dieser wird dann zu dem unbekannten Ort geführt. Aufgabe des Empfängers ist es, auf dem Weg herauszufinden, von wem er geführt wird. Die führende Person «kann» jetzt nicht mehr sprechen, weil sie sich sonst verrät.

      Beim Ankommen muss der Sender die Identität nicht preisgeben. Es ist interessanter, wenn die Person unerkannt bleibt. Es gibt noch einen weiteren Grund, die Sache zumindest nicht sofort aufzulösen: Die Konzentration beziehungsweise die Stille bleibt beim Ankommen erhalten.

      2. Verschiedene Sender äußern sich

      Ist das Ziel erreicht, bleiben die Blinden stehen. Die Sender wechseln ihre Plätze, sodass jeder ein neues Gegenüber erhält. Jetzt wird der unbekannte Ort begangen und beschrieben. Jeder Sender beschreibt der blinden Person den Ort so gut wie möglich. Nach zirka drei bis vier Minuten suchen sich die Sender einen neuen Empfänger. Der Wechsel kann – muss aber nicht – von der Gruppenleitung getaktet werden.

      Insgesamt wird mindestens dreimal gewechselt, sodass jeder Empfänger am Schluss drei verschiedene Darstellungen derselben Realität erhalten hat. Die Beschreibungen sind häufig grundlegend verschieden. Was der einen Person sehr wichtig ist, lässt die andere komplett aus, manche versuchen, «alles» zu beschreiben beziehungsweise eine Übersicht zu geben, andere gehen exemplarisch vor und beschreiben «nur» ein Detail. Die einen beschreiben sachlich nüchtern (zirka zwölf Meter hoch, die Säule hat einen Durchmesser von zirka vierzig Zentimetern; Bänke sind aus hellbraunem Holz und so weiter), die anderen arbeiten mit emotionalen Bildern («es wirkt mystisch», «beängstigend», «es könnte eine Szene aus Herr der Ringe sein» …).

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      3. Rollenwechsel

      Anschließend führt die Gruppenleitung alle zu einem neuen Besichtigungsort. Auf halbem Weg werden die Rollen von Sender und Empfänger getauscht, und die Übung findet an einem neuen Ort ein zweites Mal mit vertauschten Rollen statt.

      4. Die Fantasie retten?

      Die Blinden können im Anschluss den jeweiligen Ort sehend aufsuchen. Die Gruppenleitung achtet darauf, dass die erste sehende Begegnung nicht zu lange diskutiert wird. Eine schweigende Begehung besitzt eine magische Wirkung. Auch leises Flüstern drängt den Teilnehmenden Gedanken auf, egal wie leise gesprochen wird. Sobald es gehört wird, ist es beim Empfänger im Kopf. Nach ein bis zwei Minuten kann das Schweigen gebrochen werden.

      Wohlgemerkt, die Teilnehmenden «können» den Ort sehend aufsuchen, sie «müssen» aber nicht. Für die, die nicht hingehen, bleibt das Geheimnis bestehen. Viele erleben die «Auflösung» als Enttäuschung, da sie blind ein viel «wertvolleres Bild» in sich hatten. Man wird ein bisschen an den kleinen Prinzen erinnert: «[…] das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.»

      Systeme sind nicht additiv

      Das sehende Begehen ist ein bisschen so, wie wenn man ein Buch liest und hinterher den Film dazu schaut. Der Film nimmt einem die Fantasie. Dass jedes Hinzufügen auch gleichzeitig etwas nimmt, bleibt häufig unerkannt. Man kann nicht einfach etwas hinzufügen und gleichzeitig mehr haben.

      Ein Beispiel: Seit der Entwicklung der digitalen Kamera braucht es keine Entwicklung der Filme mehr. Man hat die Aufnahme auf dem Bildschirm unmittelbar vor sich. Früher brauchte es einige Tage, bis man die Urlaubsfotos betrachten konnte. Es wurde viel weniger fotografiert, das einzelne Bild ging nicht in der Masse unter. So wird der Gewinn mit der Vorfreude und der Entwertung des einzelnen Bilds bezahlt. Den Ort sehend zu begehen, wird mit der eigenen Fantasie und dem Geheimnis bezahlt.

      Die technische Entwicklung soll hier nicht negativ erscheinen. Es soll lediglich gezeigt werden, dass man nicht einfach eine Sache durch eine «bessere» ersetzen kann. Es ist nicht möglich, etwas hinzufügen, ohne etwas fortzunehmen. Es gibt prinzipiell (!) keinen Fortschritt, ohne dass auch etwas verloren geht. Alles hat seinen Preis: Der Internethandel geht auf Kosten des Einzelhandels. Man kann nicht erwachsen werden und dabei Kind bleiben, sonst wird kindlich zu kindisch.14 Fortschritt ist keine «Besserung», Fortschritt bedeutet nur, dass etwas weitergeht, nicht dass etwas besser wird. Einem System kann man nicht additiv etwas hinzufügen, ohne dass sich das ganze System ändert. Die Erfindung der modernen Kommunikationssysteme beziehungsweise deren Geschwindigkeit (mobiles Telefon, E-Mail) mag auf den ersten Blick eine Bereicherung sein. Gleichzeitig haben sich damit aber auch Werte verändert: «Zuverlässigkeit» ist häufig durch «Erreichbarkeit» ersetzt worden. Auch wenn moderne Bildtelefone und Konferenzschaltungen einen raschen Austausch ermöglichen: Nicht alles passt durch die Schnittstellen der technischen Apparate. Viel Unsichtbares bleibt auf der «Strecke». Ein Beispiel: Es ist nicht möglich, dass ein Orchester über solche Schnittstellen gemeinsam musiziert. Wenn jeder vom anderen isoliert in einem Raum sitzt, kommt es schwerlich zu Resonanz. Es scheint so, aber die stillschweigende Annahme, dass alles durch das «Kabel» passt, ist ein technischer Irrglaube.15

      Erweiterungen und konstruktivistischer Hintergrund

      Höhlengleichnis (Erweiterung von Übung 4 nach Schritt 3)

      Die Blinden setzen sich zusammen und tauschen sich darüber aus, wie der Ort «wirklich» ausgesehen hat – ohne ihn zuvor gesehen zu haben. Sie können sich die Vorstellungen mit verschiedenen Methoden gegenseitig veranschaulichen (ein Modell des Orts nachbauen, Bilder zeichnen und so weiter). Die Sehenden sitzen schweigend außerhalb und hören sich die Konstruktionen an.

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      Mit dieser Übung steigt man in Platons Höhle hinab.16 Man kann die Parallelität zum Gleichnis noch weiter steigern, indem sich eine Sehende oder ein Sehender nach einiger Zeit an der Diskussionsrunde beteiligt. Auch bei dieser Übung muss anschließend keine Auflösung