Bedingungen, in denen seine gewohnten (unabgeschlossenen) Lösungen nicht mehr die angemessensten Lösungen darstellen. Wenn er seine Augen benutzen muss und dies nicht tut, weil es nicht interessant und sicher für ihn ist, dann wird er jetzt seine Blindheit aufgeben und sich mit seinem Sehvermögen identifizieren; wenn er zugreifen muss, wird er sich jetzt seiner muskulären Aggression gegen das Zugreifen bewusst und kann sie loslassen usw.; dies geschieht nicht, weil Blindheit und Lähmung an sich »neurotisch« sind, sondern weil sie zu nichts mehr taugen: Deren Bedeutung hat sich von einer Technik zu einem Hindernis gewandelt.« (ebd., 312) Angewandte Gestalttherapie ist daher die Unterstützung für eine Person, sich in einer für sie aktuell erforderlichen Weise zu entwickeln, also eine Art Weiterentwicklung zu vollziehen. In diesem Sinne ist Gestalttherapie Entwicklungstherapie, und zwar insbesondere das Zur-Verfügung-Stellen eines geeigneten supportiven Feldes für einen Abschnitt einer lebenslangen Weiterentwicklung. Diese Entwicklung geht dabei einerseits von der Person selbst aus, von ihren Bedürfnissen, ihren Es-Funktionen (also ihrem Körper und seinen Impulsen), ihren Bewertungen (also ihren Ich-Funktionen), und ihrer Erfahrung (also ihren Persönlichkeitsfunktionen), und des Feldes in das sie eingewoben ist (vgl. Dreitzel 2004). Das Feld umfasst auch die Verbindung mit dem Umfeld, z.B. mit der Natur oder mit einem engen Raum und kann umgekehrt wieder Rückwirkungen auf den Organismus haben, die gerade bei Heilritualen wichtig werden, die das Naturfeld einbeziehen. Zum Feld zählen unter anderem die aktuellen Beziehungen zu anderen Menschen, die hier ergänzend als die Beziehungsfunktionen eingefügt werden können. Die Beziehungsfunktionen lassen das Verhalten einer Person immer als Antwort auf den Anruf und die Erschütterung durch den Anderen im Sinne Levinas’ (1995, 1999, 2005) bzw. als Wahl eines Beziehungsmodus im Sinne von Bubers Du vs. Es erscheinen. Das traumatische Erlebnis ist in seiner existenziellen Erschütterung daher eine »Selbsterfahrung« im Sinne einer Antwort auf die eigene Existenz und greift damit zutiefst in die Selbstprozesse der Person ein. Dies geschieht möglicherweise auf eine ähnliche Art wie bei Kindern, die in Abhängigkeit zu ihren Bezugspersonen deren Antworten und Reaktionen in den Aufbau ihrer Persönlichkeitsstruktur integrieren. Das heißt gegenüber dem Anruf durch das traumatisierende Gegenüber – sei es Mensch, Natur oder Gegenstand, (siehe Butollo 1998. 95f) – hat die Person keine Wahl und antwortet »zu schnell«, blitzartig, amygdaloid (van der Kolk 2000) und körperspeichernd. Ein therapeutisches Ziel ist daher die Wiederherstellung von Wahlmöglichkeiten der Reaktion (Butollo 1998). Eine Fülle methodisch-technischer Herangehensweisen der Gestalttherapie findet sich bei Hartmann-Kottek (2004).
Integrität und Polarität
Traumatische Erlebnisse bedrohen die erlebte Integrität auf verschiedenen Ebenen:
1. Auf der Ebene der Kontrolle, der Handhabbarkeit, können Ohnmacht und Überwältigung entstehen.
2. Auf der physiologischen Ebene geschieht eine Erstarrungsreaktion.
3. Auf der Ebene des erlebten Zusammenhanges, der Kontinuität und Kohärenz kommt es zu Abspaltungen des Erlebens, der Gefühle, Empfindungen und möglicherweise auch der Handlungen.
4. Auf der Ebene der Sicherheit kommt es zu Angst und Vermeidung.
5. Auf der Ebene der Bewertungen kann es zu massiven Selbstabwertungen kommen.
6. Auf der Ebene des Verstehens dessen, was vor sich geht, entsteht Verwirrung.
7. Auf der sozialen Ebene des Vertrauens zu anderen entstehen Gefühle der Scham.
Diese Ebenen können auch als gegensätzliche Polaritäten oder als ineinander verschränkte Reaktionen und Gegenreaktionen gesehen werden.
Tab. 1: Polaritäten bei Integritätsverlust durch Traumata
Mögliche und wichtige Kontaktstörungen traumatischer Erfahrungen werden in Tabelle 2 dargestellt. Dabei wurde die Dissoziation hinzugefügt.
So wie ein Kind die soziale Unterstützung und Zeugenschaft durch ein Elternteil braucht, so benötigt auch der durch ein psychisches Trauma Verletzte wieder das Gesehen-Werden von andern Menschen. Damit ist es ihm möglich, sich in seiner nun anderen Realität als wirklich erleben zu können, um diese Realität glauben zu können. Dadurch kann es gelingen, aus dem Bann der damaligen traumatisierenden Beziehung nun in eine neue Beziehung zu treten, von der aus gesehen das damalige traumatisierende Ereignis Vergangenheit ist. Es wird eine sehr schmerzliche Narbe bleiben, doch eben vergangen. Gleichfalls ist ein effektives und gelingendes Erleben von Unterstützung, sowie Kontrollierbarkeit des Lebens wichtig. Die Transformation und Abstraktion des Geschehenen kann gelingen, wenn es verstanden wird und wenn sich der Betroffene als Überlebender und Zeuge seines eigenen Lebens begreifen kann. Sichere und wertschätzende Beziehungen zu anderen Menschen sind die stärksten Schutzfaktoren gegenüber Traumata, und gleichzeitig auch die wichtigsten Heilungsfaktoren Traumatisierter.
Tab. 2: Kontaktstörungen, Therapieschritte, Polaritäten der Kontaktstörungen.
Gestalttherapie bei verschiedenen Traumaformen und Traumafolgen:
Butollo – Integrative Traumatherapie und Dialogische Exposition
Butollo und Mitarbeiter (1998, 2003) praktizieren und untersuchen die fruchtbare Integration von gestalttherapeutischen und verhaltenstherapeutischen Therapieelementen besonders in der Integrativen Traumatherapie mit Dialogischer Exposition (Butollo & Hagl 2003, 163f). Die verhaltenstherapeutischen Methoden werden dabei besonders in Behandlung der phobischen Anteile einer PTBS zur Überwindung dysfunktionalen Vermeidungsverhaltens herangezogen. Auch für den Aufbau fehlender Fähigkeiten und Fertigkeit werden Methoden der Verhaltenstherapie eingesetzt. Gestalttherapeutische Elemente werden in allen Behandlungsphasen eingesetzt. Die Integrative Traumatherapie entfaltet sich in vier aufeinander aufbauenden Phasen:
1. Sicherheit: Sicherheit wahrnehmen und verfestigen über Therapeutische Beziehung und therapeutisches Setting. Zur Ruhe kommen, die Wahrnehmung bestätigen, bekräftigen und stützen sind wichtige Elemente. Der Umgang mit den Symptomen und sozialen Ressourcen steht im Vordergrund.
2. Innere Stabilität: Unsicherheit erkennen und bewältigen über Selbstwahrnehmung und Beziehung, Ich-Grenzen aktivieren, Verbesserung von Selbstwahrnehmung und Selbstausdruck, Selbsterleben als kompetent, aktiv und konfliktfähig. Trauer und Dissoziation sind wichtige Themen
3. Konfrontation: Kontakt mit Trauma und Täter über Aktivierung früherer Erlebnisinhalte, kognitive und emotionale Arbeit an der Wirkung des Traumas. Grenzen aufrechterhalten durch Aggression
4. Integration: Trauma und Dialogfähigkeit über Reifung, entfremdete Selbstanteile und inneren Täter explorieren. Annehmen der Veränderung ist das Ziel.
Missbrauch
Gestalttherapeutische Ansätze zur Behandlung bei sexuellem Missbrauch sind in reicher Zahl vorgelegt worden, so Laschinsky (1996), Rust & Wolber (1996), Faria & Belohlavek (1984, zit. nach Butollo 2003). Schön (2008) beschreibt Gestalttherapie bei missbrauchten Kindern und Jugendlichen und untersucht dabei besonders auch die Gefahr der Sekundärtraumatisierung der Helfer. Anger (2008) schildert ihr gestalttherapeutisches Vorgehen bei einer dissoziativen Fugue nach sexuellem Missbrauch. Amendt-Lyon (2005, 244) stellt in einer Fallbeschreibung die Wirkung von Wahrheit und Beziehung in einer Therapie nach Missbrauchserfahrungen vor. Hille (2002) beschreibt ihre überwiegend in der gestalttherapeutischen Arbeit mit Missbrauchsopfern gewonnen Erfahrungen und entwickelt daraus in Anlehnung an Besems & van Vugt (1990) ein gestalttherapeutisches Modell, das auch Parallelen zu dem Modell von Kepner aufweist, ohne dieses aber anscheinend zu kennen. Hille (2002) diskutiert das für und wider der Rollen-/Stuhlarbeit am Täterintrojekt mit der Gefahr einer Verstärkung des Introjekts anhand der Positionen von Bungart (1991, zit nach Hille 2002, 121) und Staemmler (1992/1993, zit. nach Hille 2002, 122). Auch Wolf (1998) berichtet über das gestalttherapeutische Vorgehen im stationären Setting bei einer Missbrauchspatientin erweitert durch EMDR-Techniken.
Kepner
Kepner (1995) bringt Ergebnisse der Traumaforschung