Stefan Hahn

Gestalttherapie mit Gruppen


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Gestalten brauchen viele Reinszenierungen, bis sie verdaut sind und der Klient sie auf unterschiedlichsten Ebenen gemeistert hat. Dann kann dieses Ereignis in den Hintergrund treten, und der Klient hat neue Fähigkeiten erlernt, mit ähnlichen Situationen umzugehen und braucht sie nicht mehr aus Angst zu vermeiden.

      Im Unterschied zur Therapie im Einzelsetting bietet die Gruppe dem Einzelnen große Unterstützung bei diesem Wagnis, sie fühlt und denkt mit, fängt auf, ermutigt, tröstet, hat Nachsicht, feuert an, ist berührt und betroffen, ungeduldig, begeistert, überrascht, enttäuscht, gelangweilt, neugierig usw. Dieses weitgefächerte Spektrum an Resonanz durch die Gruppe hilft dem Klienten, sich seinem inneren Konflikt zwischen Angst vor dem Neuen und Erregung zu stellen.

      Einerseits kann er die Angst, die sonst eher im Hintergrund wirkt, bewusster wahrnehmen, durchdringen, sich zu eigen machen, mit jeder Faser seines Körpers spüren und klar formulieren. Indem er sich mit seiner Angst zeigt, sie ausdrückt und an andere wendet, begibt er sich aus seiner bisherigen Isolation und kann sich von der Gruppe getragen fühlen. Auch kann er jetzt lernen, sich selbst zu stützen, körperlich durch Atem, Zentrierung, Erdung, Erforschung seiner Katastrophenängste, kritisches Hinterfragen seiner Introjekte, Bewusstwerdung seiner Ressourcen usw.

      Andererseits kann er jetzt auch seine Erregung ins Bewusstsein kommen lassen, die er bisher gut gedrosselt hatte. Der Klient kann spüren, dass er gerne laut schreien möchte, oder sich einmal gewünscht hätte, dass sein Vater sich ihm freundlich interessiert zugewandt hätte, oder dass er gerne ein anderes Gruppenmitglied gestoppt hätte, sich weiter über ihn lustig zu machen usw.

      Diese mit Erregung wahrgenommenen Handlungsimpulse können sich auf das Hier-und-Jetzt des Gruppenlebens beziehen oder auf Ereignisse im Dort-und-Jetzt (das momentane Leben des Klienten außerhalb der Gruppe) oder Ereignisse im Dort-und-Damals (aus dem in der Vergangenheit liegenden Leben des Klienten außerhalb der Gruppe). Im Allgemeinen scheint es für Klienten weniger angstbesetzt zu sein, sich Themen des Dort-und-Jetzt und Dort-und-Damals zuzuwenden.

      Den größten Widerstand erwarte ich als Gruppenleiter bei Themen, die das Hier-und-Jetzt des Gruppenlebens betreffen. Es kommt oft Verlegenheit auf, die vielleicht überspielt wird, um trotzdem etwas tun zu können, was der Gruppenleiter vorschlägt. Besonders zu Anfang einer Gruppe fällt es den Gruppenmitgliedern schwer, mit all ihrer Erregung in Kontakt mit anderen zu gehen. Selbst eine anscheinend leichte Aufgaben, wie sich eine Person in der Gruppe auszusuchen, die man besonders sympathisch findet und es ihr in der Gruppenöffentlichkeit mitzuteilen, stößt anfänglich meist auf großen Widerstand.

      Wenn beiden Seiten des inneren Konflikts zwischen Erregung einerseits und Angst andererseits genug Raum gegeben wurde und der Klient sich mit beiden Seiten ausreichend vertraut machen und identifizieren konnte, ist es an der Zeit für ihn, sich zu entscheiden. Dafür sind Druck oder Manipulation von außen unnötig, denn dies macht er bereits selbst zur Genüge. Allerdings kann ich als Gruppenleiter mit ihm erforschen, welche Unterstützung er noch braucht, um den nächsten Schritt in eine unbekannte, aufregende und angstbesetzte Daseinsweise zu nehmen.

      Wir könnten zusammen ein Experiment erfinden, quasi als Probehandlung. Ich könnte auf der energetischen körperlichen Ebene Interventionen erfinden die helfen, die Erregung in Ausdruck und Handlung fließen zu lassen (vgl. »Vertiefung der Selbsterfahrung durch Körperarbeit«, Kapitel »Mitten drin – einige allgemeine Prinzipien«). Dabei kann ich die gesamte Gruppe mit einbeziehen, was auch den Vorteil hat, dass mehrere Gruppenteilnehmer gleichzeitig – nebenbei für sich – ihr ähnliches Thema erforschen können, ohne sich auf passives Zuhören reduzieren zu müssen.

      Meiner Erfahrung nach handelt es sich dabei aber in den wenigsten Fällen um explosionsartige emotionale Ausbrüche oder große qualitative Sprünge im Verhalten, wie es in der früheren Gestaltliteratur beschrieben wird. Es sind von außen gesehen kleine Veränderungen, die spontan stattfinden und oftmals den Urheber selbst überraschen, da sie anscheinend unwillentlich, nicht forciert passieren.

      Gruppenteilnehmer wissen dies oft mehr zu würdigen als ich, wohl weil sie näher dran sind und wissen, wie viel Mut selbst kleine Veränderungsschritte brauchen. Für den Klienten ist es von unschätzbarem Wert, wenn ihr Mut von den anderen Gruppenmitgliedern besonders hervorgehoben wird und sie dafür wohlwollende Anerkennung erhalten. Dieses spontane Lob, oft mit Neid gepaart, spornt den Klienten an, diese kleinen Veränderungsschritte zu wiederholen und auszubauen.

      Damit das Leben in einer Therapiegruppe nicht nur zu einem tröstlichen Ersatz für das unbefriedigende eigene Leben außerhalb der Gruppe wird, ist es wichtig, dass Gruppenteilnehmer die Erfahrungen aus der Gruppe in ihren Alltag übertragen lernen. Eine nicht immer leichte Aufgabe.

      Oft ist der Kontrast zwischen dem Hier-und-Jetzt in der Gruppe zu dem Dort-und-Jetzt groß, eine als unüberwindbar und schmerzlich erlebte Kluft. Allein schon diese Tatsache in der Gruppe anzusprechen und zuzugeben ist oft schambesetzt. Diese Scham, manchmal auch stille Verzweiflung, zu überwinden, hilft oft die Tatsache, dass die anderen Gruppenmitglieder Ähnliches erleben und sich ebenfalls vor diese schwierige Aufgabe gestellt sehen.

      Nehmen wir an, dem Gruppenmitglied Alina ist es zunächst in einer Reinszenierung für ein anderes Gruppenmitglied (also stellvertretend für jemand anderen) gelungen, ihr Bedürfnis laut und klar anzumelden, dass auf ihre Wünsche mehr eingegangen wird.

      Dann, als nächste Herausforderung, hat sie es auch im direkten Kontakt mit einem anderen Gruppenmitglied geschafft, einen Wunsch klar zum Ausdruck zu bringen, hat einen daraus entstandenen Konflikt erfolgreich durchgestanden und ihr Bedürfnis gut durchgesetzt. Für Alina ungewohnte Erfahrungen, an denen sie aber Geschmack gefunden hat. Sie hat eine Ahnung davon bekommen, wie viel erfüllter ihr Leben aussehen kann, wenn ihr das im Alltag öfter gelingen könnte.

      Doch jetzt sind die Bedingungen erschwert. Zum einen, weil Alinas Umwelt daran gewöhnt war, dass sie ihre Bedürfnisse eher hintanstellt und – wenn überhaupt – nur indirekt anmeldet. Sei es auf der Arbeit, wo sie bisher immer leise murrend Überstunden und mitunter unzumutbare Arbeitsbedingungen hinnahm, da sie schlecht Grenzen setzen konnte. Alina könnte jetzt für ihren Arbeitgeber unbequem werden.

      Zum anderen kommen bei Alina jetzt auch Existenzängste ins Spiel: »Werde ich meinen Arbeitsplatz verlieren, wenn ich klarer und selbstbewusster meine Grenzen setze?« Und: Es ist natürlich verlockend und aufregend, die Grenzen neu zu testen.

      Auch im Privatleben merkt Alina deutlicher, wie oft sie sich zurücknimmt und ihr Partner dies als selbstverständlich voraussetzt. Hier kommt es unweigerlich auch in der Partnerschaft zu Unruhe. Alina wird häufig auf Widerstand beim Partner stoßen, wann immer sie für ihre eigenen Bedürfnisse eintritt. Es wird Auseinandersetzungen und Kampf geben. Wer gibt schon gerne liebgewonnene Privilegien und Verhaltensmuster auf?

      Partnerschaften und auch Freundschaften geraten aus den Fugen, wahrscheinlich waren sie schon vorher für Alina unbefriedigend, wenn auch nur diffus und der Zusammenhalt von konfluenter Natur. Auch hier können Existenzängste ganz anderer Art auftreten. »Wird sich mein Partner von mir trennen oder ich mich von ihm? Werde ich all meine Freunde verlieren? Werde ich die Einsamkeit und das Alleinsein ertragen können?«

      Diese Ängste können so groß sein, dass sie sie lähmen und es Alina nicht gelingt, die in der Gruppe gemachten Erfahrungen in ihren Alltag zu transferieren.

      Die Angst vor Veränderung kann natürlich auch gegenteiliger Art sein:

      • Kann ich es aushalten, mich mehr zurückzunehmen?

      • Kann ich außerhalb der Gruppe überhaupt Intimität zulassen und verbindliche Beziehungen aushalten?

      Wichtig