Stefan Hahn

Gestalttherapie mit Gruppen


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Anfang an in Frage stellen. Viel freudige Erwartung und Aufregung kann so verpuffen. Gleich zu Beginn droht dann eine für die Gruppenkohäsion ungünstige Norm der Unverbindlichkeit.

      Verschärft wird diese unterminierende Dynamik, wenn einzelne Gruppenteilnehmer sich offen halten, ob sie in der Gruppe bleiben werden und das bis zum Schluss des ersten Treffens oder sogar noch länger ungeklärt bleibt. Es verhält sich hier wirklich wie mit der besagten Fliege auf der Nase, sie ist nicht bedrohlich, erzeugt aber einen Reiz, der eine Reaktion erfordert.

      Grundsätzlich gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, mit diesen Situationen jeweils umzugehen:

       Erst mal nichts zu tun

      Was dafür spricht: Das Thema kann von der Gruppe selbst angesprochen werden.

      Was dagegen spricht: Das Thema schwelt im Hintergrund und lähmt die Energie der Gruppe.

       Das Offensichtliche zu benennen

      Wenn das Thema die ganze Gruppe angeht, lenkt diese Intervention bereits zu Beginn die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf die Tatsache, dass das Verhalten jedes einzelnen Mitglieds Wirkung auf die anderen Teilnehmer und auf die Gruppe insgesamt hat. Es zieht jeden in die Mitverantwortung für das gesamte Gruppengeschehen: für die Entstehung von Normen, Regeln, Atmosphäre und Kultur. Eine Tatsache, die nicht von allen Teilnehmern widerstandslos hingenommen werden wird.

      Als Gruppenleitung können Sie Ihr Gewicht mit in die Waagschale geben, oder den Konflikt bei der Gruppe lassen. Sie könnten die Stellvertreter der beiden Pole Zugehörigkeit und Autonomie darin unterstützen, ihre jeweilige Position zu finden, zu vertreten und zu verteidigen. Der erste Konflikt zwischen Gruppenmitgliedern nähme Gestalt an. Die Arbeit mit Polaritäten ist dabei ein wesentlicher Bestandteil, wenn es um die Bewusstwerdung und Lösung von Konflikten geht (Zinker 1998: 191 ff.).

      Wenn Sie als Gruppenleitung gleich zu Beginn Ihr Gewicht deutlich mit in die Waagschale legen, gehen Sie in Konflikt mit Gruppenteilnehmern, was früher oder später sowieso passieren wird. Denn auch Sie werden Vorstellungen darüber haben, welche Kultur in der Gruppe herrschen sollte, damit Sie sich zum Arbeiten ausreichend wohl fühlen.

      Sie könnten also klar sagen, dass es Ihnen wichtig ist, dass die Teilnehmer zur vereinbarten Zeit da sind, so dass Sie gemeinsam anfangen können. Oder Sie könnten ankündigen, dass Sie von jetzt an zur vereinbarten Zeit anfangen werden, mit denen, die da sind.

      Wichtig für mich ist, ein reiches Repertoire an Interventionsmöglichkeiten zu haben, um solch eine recht übersichtliche offene Gestalt aktiv für mich schließen zu können. Ob ich dabei den Konflikt in die Gruppe gebe und mich soweit wie möglich raushalte oder mich selbst in den Konflikt begebe, hat unterschiedliche Konsequenzen.

      Die meisten Gruppen sind erschrocken, wenn es gleich zu Beginn einen Konflikt mit der Leitung oder unter den Gruppenmitgliedern gibt.

      Zusammenfassend erlebe ich mich als Gestaltgruppenleiter wie ein Spürhund nach offenen Gestalten (Unerledigtem), die im Hier und Jetzt der Gruppe wirken und nach Schließung drängen. Darüber hinaus möchte ich es den Gruppenteilnehmern schmackhaft machen, dass es sich lohnt, sich diesen offenen Gestalten zuzuwenden. Wird die Gestalt geschlossen, gehen die Gruppenteilnehmer gestärkt und gereift aus diesem Prozess hervor.

      Haben Sie die oben beschriebenen Prinzipien mehr oder weniger befolgt, so werden Sie einen Fokus für Ihre Arbeit mit der Gruppe gefunden haben. Sie haben für ausreichend Raum und Zeit für den Figurbildungsprozess bei einzelnen Teilnehmern und für die Gruppe als Ganzes gesorgt. Es gibt spezifische, konkrete Anliegen in der Gruppe von lebendigem Interesse für die meisten Teilnehmer. Das Thema ist benannt, ein Fokus ist gefunden.

      Dies ist nicht immer ein geradliniger Prozess, oft liegen mehrere Themen an und es ist wichtig, dies offenkundig zu berücksichtigen und Zeit dafür einzuplanen. Vielleicht entwickelt man zusammen mit der Gruppe eine Prioritätenliste. Es empfiehlt sich, klar zu bekunden, wenn die Zeit nicht für alle Anliegen reichen wird. So wecken Sie als Gruppenleiter keine uneinlösbaren Erwartungen und nehmen sich selbst den Druck, allen gerecht werden zu müssen.

      Ist also der Fokus gefunden, gilt es ihn zu halten. Das ist in den Anfangsstadien einer Gruppe hauptsächlich Ihre Aufgabe als Gruppenleiter. Sie halten stetig den Kurs inmitten vieler Ablenkungen, Vermeidungen und Irrwegen auf Seiten der Gruppenteilnehmer. Dabei ist es nur natürlich, dass Sie häufig selbst vom Weg abkommen. Idealerweise bleiben Sie dabei präsent und verlieren den Fokus nicht aus den Augen (vgl. Kapitel »Der therapeutische Prozess«).

      Zu Beginn einer Gruppe richten sich die Teilnehmer fast ausnahmslos an Sie, den Gruppenleiter. Das ist völlig normal, schließlich bringen sie damit zum Ausdruck, dass sie Ihre Autorität als Gruppenleiter akzeptieren. Ich erachte es als ein wichtiges Lernziel einer Gestaltgruppe, dass die Teilnehmer das volle Potenzial dieser einzigartigen Gruppe nutzen lernen, um diese Lernerfahrung dann auf andere Gruppen übertragen zu können.

      Die Interventionen des Gestaltgruppenleiters schaffen die Kultur einer interaktiven Gruppe. Ein Großteil meiner Aufmerksamkeit und meiner Interventionen richten sich auf das Hier-und-Jetzt des Gruppengeschehens, allerdings nicht mit der strengen Ausschließlichkeit einer interaktiven Gruppentherapie, wie zum Beispiel bei Bud Feder (Feder 2006: 57 ff.).

      Mit meinen Interventionen lade ich die Gruppenteilnehmer immer wieder ein, ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf sich selbst zu richten, sondern auch auf das, was zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern und in der Gruppe als Ganzes geschieht. Dies bedeutet für viele eine ganz neue Schulung der Aufmerksamkeit. Auf dieser Basis können Teilnehmer miteinander in Kontakt gehen, sich in unterschiedlichen Konstellationen ausprobieren, experimentieren, sich neu erfinden und wachsen (vgl. Anhang: »Vorschläge für Experimente und Gruppenaktivitäten«; vgl. Kapitel »Arbeit mit der Gruppe als Ganzes« und »Das kreative Potenzial der Gruppe nutzen«).

      Hier geht es mir zunächst um wichtige Kriterien bei der Auswahl, bzw. Erfindung von Gruppenaktivitäten und Experimenten. Grob gesprochen, lassen sie sich in zwei Gruppen aufteilen:

      • Experimente/Aktivitäten, die eher aktivieren, stimulieren und Prozesse in Gang setzen, die weiter verfolgt und vertieft werden können. Offene Gestalten werden bewusst, beanspruchen Aufmerksamkeit und drängen nach Vervollständigung.

      • Experimente/Aktivitäten, die eher eine beruhigende, nährende, heilende, spielerische Qualität haben und eine Ruhephase einleiten.

      Beide Arten von Aktivitäten sind wichtig im Leben einer Gruppe und entsprechen dem natürlichen Rhythmus von Kontakt und Rückzug. Als Gruppenleiter achten Sie auf Ausgewogenheit. Es gibt Gruppen, in denen immer hart gearbeitet wird und in denen es immer Konflikte gibt. Oder es gibt Gruppen, die sich ausschließlich mit schwierigen Problemen und Schicksalsschlägen einzelner Teilnehmer beschäftigen. Natürlich sind Gruppen auch und gerade dafür da – aber nicht nur.

      Leicht kann es zu einer Fixierung kommen und harte Arbeit und schwierige Probleme werden zur Gruppennorm. Der Gruppe fehlen dann Leichtigkeit, Sinnes- und Lebensfreude, Zuversicht und Harmonie, Qualitäten, die das Leben lebenswert und die Gruppe zu einem attraktiven Ort machen.

      Hier können Sie als Gruppenleiter durch das Angebot entsprechender Aktivitäten gegensteuern und den Teilnehmern durch alternative Erfahrungen aus der Fixierung helfen und sie auch bewusst werden lassen.

      Umgekehrt gibt es natürlich auch Gruppen mit eher gegenteiligen Normen, in der die Teilnehmer sehr auf Harmonie bedacht sind und allen Konflikten aus dem Weg gehen. Sie scheuen davor zurück, sich anderen Gruppenteilnehmern mit ihren Problemen zuzumuten.