vermutlich noch keine 20 Jahre und studierte seit zwei Jahren in Wien, als er einen Brief Zwinglis erhielt. In humanistischen Kreisen kannte jeder jeden, und Zwingli musste zu Ohren gekommen sein, dass da ein junger, vielversprechender Zürcher mit lateinischen Dichtungen von sich reden machte. Conrad Grebel litt an einer leichten Sprechhemmung, über die nichts weiter bekannt ist, als dass er selbst sich als «einsilbig» bezeichnete und als Jüngling in beständiger Furcht gelebt hatte, einen Anlass zu geben, ihn auszulachen. Umso freier äusserte er sich schriftlich. Wie seine zahlreichen erhaltenen Briefe zeigen, schwankte er ständig zwischen aufschiessender Euphorie und Melancholie. Oft blieb er selbst in der Schwermut ironisch.
Verschwenderisch lebte er von ungeliebten, politisch heiklen Stipendien, die ihm sein Vater zuerst bei Vertrauten des Kaisers und dann bei der französischen Krone besorgte, gab dieses Geld vielleicht gerade deshalb für «Bauch, Bücher und Kleider» aus, wie er Vadian – der bekannte St. Galler Humanist und Arzt wurde im Sommer 1519 sein Schwager – am 14. Januar 1520 selbst gestand. Seit Ende 1518 studierte Conrad Grebel in Paris weiter. Er suchte die Geselligkeit, stellte aber so hohe Anforderungen an die Freundschaft, dass er entsprechend schnell zu enttäuschen war. Durch den plötzlichen Briefkontakt mit Zwingli fühlte er sich geehrt und gerührt.
Dieser Fernfreundschaft haftete etwas Ungleiches an. Grebel hatte sich schon in Wien auf einen üblen Fechtkampf eingelassen, bei dem ihm beinahe der rechte Arm abgetrennt worden wäre. In Paris nun gerieten er und seine Freunde am 1. Mai 1519 mit Franzosen in einen Kampf, bei dem zwei französische Widersacher tot liegen blieben. Vermutlich entging Grebel nur deshalb einem Strafprozess, weil kurz danach die Pest ausbrach und er vor ihr nach Melun an der Seine flüchtete, ehe er im Januar in die Hauptstadt zurückkehrte und schliesslich Anfang Juli 1520 wieder in Zürich eintraf.
Nicht auszuschliessen ist, dass Zwingli, als er die Freundschaft des jungen Conrad Grebel suchte, mindestens ebenso sehr auf die Verbindung zu dessen Vater abzielte: Junker Jakob Grebel war ein einflussreicher Eisenhändler und im Kleinen Rat für die Zürcher Aussenpolitik zuständig. Sein Wort zählte unter Eidgenossen, nicht zuletzt wegen dessen Ehefrau Dorothea, Tochter des ehemaligen Landamanns von Uri, Hans Fries.
Um auch dies schon vorwegzunehmen: Junker Jakob Grebel wurde nur wenige Monate nach der Meldung vom Tod seines Sohnes Conrad am 30. Oktober 1526 auf massiven Druck Zwinglis nach einem Schnellverfahren mit dem Schwert auf dem Zürcher Fischmarkt hingerichtet. Jene Monate im Herbst 1526 können als die Terrorphase der Zürcher Reformation angesprochen werden. Junker Jakob Grebel galt, zu Unrecht oder zu Recht, als Anhänger der Partei Frankreichs. Die Stadt Zürich selbst aber war seit der – durch eidgenössische Bestechlichkeit – verlorenen Schlacht von Marignano 1515 antifranzösisch eingestellt.
Solddienst, Pest und die Frage nach der «Gnade»
Magister Ulrich Zwingli glänzte durch seine umfassende humanistische Bildung: Zwischen 1498 und 1506 hatte er in Wien und Basel die freien Künste – artes liberales – studiert, ehe er sich in Konstanz zum Priester weihen liess. Was seinen Predigten aber ihren besonderen Zug verlieh, war die erbitterte, durch seinen Lehrer Erasmus von Rotterdam auch philosophisch fundierte Gegnerschaft zum Krieg und zum Solddienst. Das machte ihn in Luzern und Zug verhasst, in Zürich aber anfangs beliebt.
Seine erste Priesterstelle hatte er 1506 in Glarus angetreten, und 1513 und 1515 war er während der Mailänder Kriege mit der Glarner Solddiensttruppe als Feldprediger nach Novara und Marignano gezogen. Das führte ihm drei Dinge vor Augen: die Grausamkeit der Kriege, die Unmoral des Söldnergewerbes und das riesige Ausmass der Bestechungen auf höheren staatlichen Ebenen beim Abschluss der Solddienstverträge. Einst vom Tyrannen Mailands, Ludovico Sforza, ins Land gerufen, lieferte sich Frankreich in Norditalien einen Kampf mit dem über weite Gebiete herrschenden Papst um die weltliche Macht.
Seit November 1516 war Zwingli in der grossen, der Heiligen Maria geweihten Kirche des heruntergekommenen Klosters Einsiedeln Priester. An der alljährlich zu Pfingsten stattfindenden Wallfahrt nach Einsiedeln im benachbarten eidgenössischen Länderort Schwyz lernten ihn die Zürcher Bevölkerung und ihre regierenden Ratsherren näher kennen. Er nahm die Beichte ab und predigte. So entstanden persönliche Kontakte, und als Ulrich Zwingli Anfang 1519 – trotz einem Skandal um eine schwangere, unverheiratete Barbiertochter in Einsiedeln – als Priester ans Grossmünster geholt wurde, war er für die Stadt längst kein Unbekannter mehr.
1521 gingen die Eidgenossen erneut ein Solddienstbündnis mit Frankreich ein. Nur Zürich beteiligte sich nicht und lieferte stattdessen dem Papst Truppen – entgegen Zwinglis grundsätzlichem Widerspruch gegen das blutige Gewerbe und seiner Kritik an den Kardinälen: «Sie tragen mit Recht rote Hüte und Mäntel. Denn schüttelt man sie, so fallen Dukaten und Kronen heraus; windet man sie, so rinnt deines Sohnes, Bruders, Vaters und Freundes Blut heraus», predigte Zwingli laut seinem späteren Nachfolger Heinrich Bullinger damals. Das war etwa ein Jahr bevor 1522 die Reformation in Zürich im eigentlichen Sinn begann – mit Zwinglis provokativer Übertretung der Fastengebote.
Seine persönliche Macht vermochte Ulrich Zwingli erst Schritt für Schritt auszubauen. Zürich galt damals noch als päpstlichste Stadt nördlich der Alpen. Auch die Leibgarde des Papstes wurde von einem Bruder eines der beiden Zürcher Bürgermeister befehligt. Dass die Zürcher Solddiensttruppen – etwa 2000 Mann – aber Ende Dezember 1521 zurückkehrten, ohne den ganzen zugesagten Sold erhalten zu haben, war mit ein Grund, weshalb Zürich schneller, als irgendwer vermutet hätte, reformatorisch wurde.
Zwingli selbst blieb stark antifranzösisch eingestellt. Es war das klar gegen Frankreich eingestellte Lager unter den Chorherren in Zürich, das ihn 1519 zum Prediger im Grossmünster bestimmt hatte, der wichtigsten Kirche der Stadt. Selbst als Zwingli vor seiner Wahl als Chorherr 1521 gestand, bislang jährlich 50 Gulden vom Papst bezogen zu haben – die Annahme fremder Gelder war in Zürich seit einigen Jahren streng verboten –, wurde ihm dies nicht weiter übel genommen.
Unmittelbarer Anlass für die Reformation war bekanntlich der Ablasshandel – gegen Bezahlung würden selbst die Sünden der bereits Verstorbenen erlassen, lautete das Versprechen. Die Kritik erstreckte sich aber schnell auf alle denkbaren übrigen Bereiche. Viele religiöse Handlungen galten auf einmal als nutzlos, schlimmer: als ein offener Betrug. Die reformatorische Generation befand, der Weg zum Seelenheil erfolge nur über die Predigt oder die Lektüre der Evangelien – des «Worts Gottes», das unverfälscht vorliege. Der Zugang zu den höchsten Wahrheiten bedürfe keiner weiteren Vermittlung. Weder den Heiligen noch den Geistlichen komme die Macht zu, das «Seelenheil» – die «Gnade» – zu sichern. Die einzelne Seele, so die neue Doktrin, könne weder durch Anbetung der Heiligen noch durch Opferhandlungen auf die Entscheidung Einfluss nehmen, ob der Himmel sich erbarme. Wie jede Revolution ergriff die Reformation fast jeden Lebensbereich.
Schon vor seiner schliesslich überstandenen Pesterkrankung 1519, die in ihm endgültig das Gefühl eines Auftrags des Himmels weckte, begann Zwingli, Vers für Vers die Evangelien durchzupredigen, und er hielt sich nicht mehr an die vom Bischof von Konstanz vorgegebene Auswahl der im Gottesdienst zu verwendenden Bibelzitate. Er konnte sich einer breiten Zustimmung sicher sein, denn er hatte sich bei der Seelsorge für die an Pest Erkrankten angesteckt. Damals nicht geflohen zu sein, wurde ihm in der Stadt hoch angerechnet.
Das Grossmünster war zu der Zeit noch ein Chorherrenstift. Zwinglis traditionalistische Gegner unter den Chorherren hielten sich anfänglich zurück. Sie machten sich erst nach dem Fastenstreit im Frühjahr 1522 laut bemerkbar. Ihre aufgelisteten Klagen wurden Zwingli zwar nicht in Zürich selbst gefährlich – im Grossmünsterstift hielt er seine Widersacher dank der Rückendeckung durch die meisten Ratsherren in Schach –, aber sie bedrohten ihn auf dem Umweg über die Eidgenossen umso mehr. Drohworte fielen, Entführungsgerüchte machten die Runde. Der Rat ordnete am 12. April 1522 eine Untersuchung an.
Luther war im Reich bereits seit Mai 1521 gebannt, und Luzern bekundete spätestens am 30. Dezember 1522 offen den Willen, die lutherischen und zwinglischen Lehren, die sich täglich weiter ausbreiteten, zu bekämpfen. Erste Massnahmen gegen die neue Predigtweise hatten die Eidgenossen an der Tagsatzung vom 27. Mai und 3. November 1522 beschlossen.
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