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Nische besetzt und zu seinem Markenzeichen gemacht, ansonsten schien man den digitalen Wandel zumeist aussitzen zu wollen. Natürlich: Ein paar mehr Stadt- und Staatstheater legten sich Facebook-Accounts zu (und fragen sich bis heute, was sie damit eigentlich machen sollen und warum sie die Betreuung eines Instruments, das sich eigentlich so gar nicht für Marketingzwecke eignet, noch mal in die Marketingabteilung einsortiert haben). Einige Theater experimentierten mit digitalen Formaten, aber weit weniger als zuvor. Vielleicht hatte Effi Briest 2.0 sie abgeschreckt, eine sehr verunglückte Social-Media-Inszenierung aus dem Jahr 2012,7 in der die Werbeagentur Jung von Matt maßgeblich mit Regie geführt hatte, und mit der man nicht interagieren durfte, um die Figurendialoge nicht zu stören. Die Ehrenrettung für das Format „Social-Media-Inszenierung“ sollte tatsächlich noch acht Jahre auf sich warten lassen.8 Während der mobile Datenstandard LTE um 2010 herum in Deutschland Verbreitung fand und wir damit selbst unterwegs zunehmend mit dem Internet verbunden waren, wurden am Theater eher Mammutprojekte im Schauspiel wie ein achtstündiger Faust (Nicolas Stemann, 2011)9 oder Dionysos Stadt (zehn Stunden, 2018)10 gefeiert, in der implizit auch die Abkehr von der permanenten Erreichbarkeit mitzelebriert wurde (in der Oper kannte man das Prinzip ja schon etwas länger …) Dem gegenüber stand ein launiger, aber begreiflicherweise auch kurzlebiger Trend des Live-Twitterns aus dem Theater.11

      Noch im Jahr 2018 titelte die Neue Musikzeitung anlässlich der Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins in Lübeck, dieser würde einen „Kulturwandel“ anstreben.12 Zentrale Teile der Tagesordnung: der wertebasierte Verhaltenskodex für die Eindämmung von Machtmissbrauch und Übergriffen am Theater und die Digitalisierung. Während der wertebasierte Verhaltenskodex noch auf der Jahreshauptversammlung selbst als Minimalkonsens mit Vorschlagscharakter verabschiedet wurde (und auch das nicht ohne Widerstand), blieb es im Themenkomplex Digitalisierung zumindest vonseiten des Bühnenvereins aus beim interessierten Exkurs, dem keine strukturellen Taten folgten.

      Dass das Staatstheater Augsburg Ende 2019 VR-Brillen für ein hybrides Opernprojekt anschaffte, war angesichts dieser Entwicklung zwar kein Zufall, sondern logische Fortführung, wäre aber vermutlich ein Einzelfall-Leuchtturmprojekt in einer ansonsten immer noch am analogen Zeitalter klammernden Theaterlandschaft geblieben. Das gemächliche Tempo, in dem sich die Theater der Digitalität gerne angenähert hätten, haben die globalen Ereignisse der Jahre 2020 und 2021 und die damit einhergehende Schließung der Bühnen für die längste Zeit seit 1944 gehörig beschleunigt. Die Realisierung einiger Theater, dass der eigene Facebook-Account, den man vor ein paar Jahren noch in der Marketingabteilung geparkt hatte, nun quasi über Nacht die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch mit einem Publikum in Kontakt zu treten, muss hart gewesen sein. Dass dann an ganz vielen Häusern überhaupt etwas passiert ist – irgendetwas! – sowohl im ersten wie auch im zweiten Lockdown ein halbes Jahr später, zeugt davon, dass Theater in kürzester Zeit Berge bewegen und komplette Wertesysteme auf den Kopf stellen kann. Wenn es will. Oder wenn es muss.

      Mittlerweile hat sich wohl jedes Theater im deutschsprachigen Raum mit digitalen Formaten auseinandergesetzt und eruiert, wo es eigentlich steht im digitalen Kulturwandel. Dabei sind an vielen Stellen auch die Desiderate des am Theater lange Zeit ignorierten Innovationsstaus zutage getreten: Man hat gemerkt, dass Abteilungen schlecht ausgestattet, Personal nicht hinreichend geschult und Infrastruktur nicht angemessen entwickelt worden ist. Auf der anderen Seite hat sich aber auch die eigene Haltung den digitalen Ausspielkanälen gegenüber gewandelt. Der vorherrschende Diskurs ist nicht mehr einer, der den physischen Raum gegen den digitalen ausspielt und – wie früher oft gehört – eine pauschalisierende Wertung vornimmt, sondern einer, der sich fragt, ob man eigentlich an der Aura des Produkts erkennt, ob das jetzt ein Live-Stream ist oder nur die temporäre öffentliche Ausspielung einer Aufzeichnung. Im Gegensatz zu früher tragen wir die Begriffe Ko-Präsenz, Liveness, Immersion und Durchlässigkeit nicht mehr als Monstranz und Beweis unserer unverrückbaren analogen Existenz vor uns her, sondern versuchen, sie auf die neuen Gegebenheiten, die neuen Bühnen anzuwenden. Was beispielsweise heißt es für einen als live empfunden werden sollender Theaterabend, wenn die vierte Wand im Stream nicht mehr durchlässig ist, und mit welchen Mitteln können wir diese Durchlässigkeit wieder herstellen? Was bedeutet es für die autopoietische Feedbackschleife, wenn der gemeinsame Raum auf einmal ein digitaler ist? Und wie können wir Ko-Präsenz für uns umdeuten, wenn keine Körperlichkeit mehr involviert ist?

      Wir sind noch ganz am Anfang einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Digitalen. Aber irgendwann – und hoffentlich bald – werden wir auch dieses Themenfeld öffnen, in die Intersektionalität überführen und in einer kritischen Reflexion betrachten müssen, wie genau wir die Digitalisierung unserer Branche und unserer Kunst eigentlich umsetzen wollen. Dann sprechen wir vielleicht darüber, wie digitale Methoden im Betrieb eingesetzt werden können, um Hierarchien zu verflachen. Oder wie Automatisierung von Prozessen dabei helfen kann, die am Theater arbeitenden Menschen vor Burnout zu schützen. Oder warum wir eigentlich einer umfassenden Open-Access-Strategie verpflichtet sein müssten. Und wie man Digitalisierung eigentlich nachhaltig gestalten kann, angefangen von den verbrauchten Kilowattstunden und der Herkunft unseres Stroms, bis hin zu den unerträglichen Ausbeutungsszenarien, die wir in der gesamten Herstellungs- und Verwertungskette unserer modernen Elektronik sehen, vom Lithium-Raubbau bis zur Entsorgung unseres Elektroschrotts zum Beispiel in Ghana. Auch die Frage, wie Software und deren Nutzung nachhaltig, offen und nachnutzbar gestaltet werden kann, gehört hier dazu. Hier einzusteigen in eine differenzierte Debatte, die vielleicht keine Patentlösungen für diese globale Problematik mitbringt, in der aber ein klarer Wille der Theaterbranche erkennbar wird, hier bewusste Entscheidungen zu treffen, wünsche ich mir für 2022.

      Die Spielzeit 21/22 am Staatstheater Augsburg trägt unter anderem auch deshalb das Motto „endlich.“. Der Begriff steht dabei sowohl für den Stoßseufzer, mit dem wir die Öffnung unserer physikalischen Spielorte wieder herbeisehnen, als auch für die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, die Endlichkeit des Zeitfensters, in dem wir uns gegen den immer unaufhaltsamer werdenden Klimawandel stemmen können, für die Endlichkeit unserer Kräfte, und letztlich auch für die Endlichkeit eines Theaters, in dem die Verschwendung der Kunst in allen Facetten propagiert wird, ohne Rücksicht auf Verluste. In einer Auseinandersetzung mit der Endlichkeit von Ressourcen in der Welt können wir nicht ausblenden, dass ein Theaterbetrieb derzeit nicht sonderlich nachhaltig agiert. Am plakativsten sehen wir das derzeit vielleicht daran, wie Theater mit Arbeitskraft umgeht.

      Es gab mal ein spannendes Interview in Theater der Zeit mit einem Coach zum Thema Machtmissbrauch an Theatern, in dem er berichtete, dass Theater in ihrer Personaldecke mitunter einen exorbitant hohen Krankenstand hätten. Er wertete das als Zeichen dafür, dass hier Mitarbeitende möglicherweise „verschlissen“ würden und eine gewisse Flucht anträten.13 Auch Hubert Eckart, Vorsitzender der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft DTHG, beschreibt in seinem FAZ-Interview von 2019 ähnliche Zustände: „Vorne verkünden wir die Menschenrechte, hinten wirst du angeschnauzt.“14

      Die Digitalisierung kann Machtmissbrauch an Theatern nicht verhindern, kann nicht dafür sorgen, dass ein respektvoller Umgang miteinander herrscht und dass die Leute, die dort arbeiten, weniger angeschnauzt werden, um bei Hubert Eckart zu bleiben. Aber kluge Automatisierung könnte helfen, die Kraftressourcen von Mitarbeitenden zu schonen und in Gebiete zu verlagern, in denen wir Menschen den Maschinen noch haushoch überlegen sind: in das Bearbeiten komplexer, vielschichtiger Felder, die Empathie und Miteinander verlangen. Im 21. Jahrhundert müsste niemand mehr Tabellen abtippen, Social Media Posts anhand von Premierendaten anlegen, eine Monatsdispo von Hand entwerfen oder Tickets auf Sicht kontrollieren. Alleine die Stunden, die ich am Theater schon mit stupider, repetitiver Handarbeit verbracht habe, würden ganze Monatsabrechnungen füllen – wir alle, die wir am Theater arbeiten, egal, in welcher Funktion, haben diese Tätigkeiten, die eigentlich Maschinen machen könnten. Wir werfen derzeit menschliches Personal auf sämtliche Arbeiten am Theater und wundern uns dann, dass wir zum einen keine guten Leute mehr finden und zum anderen, dass die, die da sind, sich irgendwann mit Burn-out in das innere Bienenzüchten abmelden.

      Die vielbeschworene Gefahr, dass Automatisierung Arbeitsplätze abschafft, besteht dabei gerade am Theater nicht. Der Kern von Theater ist seine Menschlichkeit und