1. Grundsätzliche Irrelevanz der Substanzwerte
Bei der Gesamtbewertung ermittelt der Unternehmensbewerter den Ertragswert des Unternehmens, indem er die zukünftigen Nettocashflows des Unternehmens auf den Bilanzstichtag diskontiert. Der Substanzwert an sich ist irrelevant.49 Der Wert der betriebsnotwendigen (oder genauer: zur Erzielung der Cashflows notwendigen) Vermögensgegenstände (z.B. Grundstücke und Know-how) schlägt sich vollständig im Ertragswert des Gesamtunternehmens nieder. Denn ein Unternehmen, dem ein betriebsnotwendiges Produktionsgebäude gehört, spart Mietausgaben. Diese Einsparung führt c.p. zu höheren Nettocashflows und – bei gleichbleibendem Zinssatz – zu einem höheren Ertragswert. Würde der Bewerter den Marktwert des Gebäudes zusätzlich zum Ertragswert erfassen, so muss er unterstellen, dass der Unternehmer das Gebäude zu diesem Preis verkauft und einen zusätzlichen Netto-Verkaufs-Cashflow erzielt. Allerdings muss der Bewerter dann in einem zweiten Schritt prüfen, welche Zusatzausgaben (Miete oder Kaufpreis) dem Unternehmen dadurch entstehen, dass es kein eigenes Produktionsgebäude mehr besitzt, das es ja dringend benötigt, und den Ertragswert entsprechend verringern.
2. Relevanz der Substanz bei unzureichender Ausstattung mit Anlage- und Nettoumlaufvermögen
Die Irrelevanz der Substanz hat jedoch ihre Grenzen. Wird z.B. über den Kauf eines Unternehmens nachgedacht, ist es von besonderem Interesse, welchen Nutzen die schon vorhandene Substanz für den Käufer hat. Die indirekte Bedeutung des Substanzwerts kommt in seiner Interpretation „als vorgeleistete Ausgaben“50 insofern zum Ausdruck, als „dem Investor durch das Vorhandensein von Vermögensteilen entweder künftige Ausgaben ganz erspart bleiben oder doch zumindest ihr Anfall zeitlich hinausgezögert wird: Substanz substituiert künftige Ausgaben“51 und ermöglicht die Vornahme von zukünftig höheren oder zumindest vorgezogenen Ausschüttungen, da entsprechende Beträge nicht mehr (zeitnah) zum Erwerb von betriebsnotwendigem Vermögen eingesetzt werden müssen, sondern an die Unternehmenseigner verteilbar sind.
Der Unternehmensbewerter muss demzufolge danach fragen, ob die am Bewertungsstichtag vorhandene Substanz ausreicht, um die geplanten Nettocashflows in der Prognosephase auch zu ermöglichen. Sind bestimmte Anlagegegenstände zwar betriebsnotwendig, aber nicht (in ausreichendem Umfang) im Unternehmen vorhanden, so verringern deren Wiederbeschaffungskosten den Ertragswert des Unternehmens.
Kalkuliert z.B. der Bewerter eines Fuhrunternehmens mit einem gleichbleibenden jährlichen Nettocashflow von 500 000 Euro (langfristiger Auftrag eines Kunden) und einem Zinssatz von 10 %, so beträgt der Ertragswert der ewigen Rente 5 Mio. Euro. Ist jedoch für die Erzielung des Nettocashflow ein funktionstüchtiger Lkw im Wert von 200 000 Euro erforderlich, und stellt der Unternehmensbewerter fest, dass der dafür vorgesehene Lkw des Fuhrunternehmens vor dem Bewertungsstichtag zerstört wurde, so ist der Unternehmenswert zu korrigieren. Diese (wertmindernde) Korrektur ist vorzunehmen, indem der Ertragswert (5 Mio. Euro) um die Wiederbeschaffungskosten des Lkw (200 000 Euro) vermindert wird. In diesem (Ausnahme-)Fall wird die Substanz neben der Ertragskraft des Unternehmens separat bewertet.
Die Mindestausstattung mit Kapital betrifft auch das betriebsnotwendige Netto-Umlaufvermögen (Working Capital). Zum Working Capital zählen auf der Aktivseite der Bilanz klassischerweise folgende Positionen:
– Mindestbestand an liquiden Mitteln,
– Vorratsbestand,
– Bestand an Forderungen aus Lieferungen und Leistungen,
– Aktive Rechnungsabgrenzungsposten und geleistete Lieferantenanzahlungen.
Auf der Passivseite der Bilanz zählen als Abzugspositionen vom Working Capital u.a.:
– Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen,
– Operative Rückstellungen,
– Passive Rechnungsabgrenzungsposten und erhaltene Kundenanzahlungen.
Die einzelnen Positionen des Working Capital zeichnen sich durch drei wesentliche Charakteristika aus:
1. Die Positionen des Working Capital sind zur Erzielung des Cashflow notwendig. Sie entstehen auf natürliche Weise aus dem operativen Geschäft. So hat z.B. ein auf Ziel verkaufendes Unternehmen am Bilanzstichtag regelmäßig Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, die schlicht daraus resultieren, dass einige Tage zwischen dem Erbringen der Leistung und ihrer Bezahlung liegen. Verkauft z.B. ein Unternehmen an 360 Tagen im Jahr Waren und Dienstleistungen für 1 000 Euro pro Tag und bezahlen die Kunden im Durchschnitt zehn Tage nach Lieferung, so bestehen am Bilanzstichtag Forderungen aus Lieferungen und Leistungen von 10 000 Euro.
2. Die Positionen des Working Capital werden zwar im Einzelnen mehr oder weniger schnell umgesetzt, ihr Gesamtbestand bleibt aber langfristig – bei gleichen Umsätzen – weitgehend unverändert. Sie haben daher dieselbe (Kapital-)Bindungswirkung wie das Anlagevermögen. Im vorstehenden Beispiel bezahlen die Kunden ihre Forderungen zwar nach zehn Tagen. Am gleichen Tag beziehen sie (oder andere Kunden) aber vom Unternehmen wieder Leistungen in vergleichbarer Höhe, die wiederum erst in zehn Tagen bezahlt werden. Dadurch bleibt c.p. der Gesamtbestand an Forderungen der Höhe nach erhalten und lediglich seine Zusammensetzung variiert.
3. Die Positionen des Working Capital sind – wie das Sachanlagevermögen – langfristig unverzinslich. Im vorhergehenden Beispiel erhalten die Kunden für zehn Tage ein unverzinsliches Kurzdarlehen. Da sich aber im Bezahlungszeitpunkt sofort ein neuer Kurzkredit in gleicher Höhe anschließt, kann finanzmathematisch davon ausgegangen werden, dass die Kunden ihre erste Warenlieferung immer noch nicht bezahlt haben, dafür aber die Ware der zweiten Lieferung in bar entrichten. Im Ergebnis prolongiert das Unternehmen der Gemeinschaft der Kunden das zunächst nur für zehn Tage gewährte Kundendarlehen immerwährend, so dass es erst bei Auflösung des Unternehmens in ferner Zukunft fällig gestellt wird und bis dahin den Kunden unverzinslich zur Verfügung steht.
Ähnlich wie beim Anlagevermögen muss der Bewerter fehlendes oder überzähliges Working Capital bei der Berechnung des Ertragswerts berücksichtigen. Wird z.B. angenommen, dass ein Lebensmitteleinzelhändler einen prognosefähigen jährlichen Nettocashflow von 40 000 Euro erwirtschaftet, so beträgt der Ertragswert bei einem Zinssatz von 10 % und der Annahme einer ewigen Rente 400 000 Euro. Der Nettocashflow setzt aber voraus, dass der Händler einen bestimmten Bestand an Lebensmitteln in seinen Regalen vorrätig hat (z.B. im Einkaufswert von 30 000 Euro), denn ohne Angebot kaufen die Kunden nicht. Hat der Händler nun kurz vor dem Bilanzstichtag sämtliche Waren verkauft (z.B. Großauftrag der Gemeinde), so dass die Regale leer sind, wird dies ein potenzieller Käufer des Unternehmens berücksichtigen müssen. Der Käufer weiß, dass er die Nettocashflows nur dann dauerhaft erzielen kann, wenn die Regale ordnungsgemäß bestückt sind; dies kostet ihn aber einmalig (kurz nach Erwerb) 30 000 Euro. Deshalb wird er die zusätzlichen (einmaligen) Auffüllungskosten von 30 000 Euro kaufpreismindernd berücksichtigen und den Ertragswert des Unternehmens aufgrund der fehlenden betriebsnotwendigen Substanz mit 370 000 Euro (= 400 000 Euro abzgl. 30 000 Euro) veranschlagen.
3. Relevanz des Liquidationswerts bei nicht zur Erzielung des Cashflow notwendigem Vermögen
Vermögenswerte, die das Unternehmen nicht benötigt, um die prognostizierten operativen Nettocashflows zu erzielen (z.B. spekulativ gehaltene Aktien), erhöhen den Ertragswert, wenn das Verbleiben dieser Objekte im Unternehmen nicht zu einem höheren Wert führt als ihr Verkauf. In diesem Fall ermittelt der Bewerter den Liquidationserlös dieser Objekte und rechnet ihn dem Ertragswert hinzu. Er muss jedoch dann bei der Bestimmung des Ertragswerts darauf achten, dass die aus dem Objekt anfallenden Einzahlungen (z.B. Dividendenerträge) und Auszahlungen (z.B. Depotgebühren) nicht mehr in die Plancashflow-Berechnung des Ertragswerts einbezogen werden. Sie sind aus der Plan-GuV und der daraus abgeleiteten Plan-Cashflow-Rechnung zu eliminieren.
II. Anwendung auf den Fall: Substanz