ein nahezu unhörbares Produkt. Die Musik ließ er von Peter Bellendir, dem Schlagzeuger von X-Mal Deutschland und Eisenvater, produzieren, generische, elektronische Musik. Zuvor hatte er ein paar Texte über das Erschießen von Menschen und den Drogenverkauf an Schulkinder auf ein Band gemurmelt, die dann über die Musik gelegt wurden. Um dem Ganzen dann die Krone aufzusetzen, wurden zum Schluss die Drums aus allen Tracks entfernt. Übrig blieb im besten Fall, wie bei »Knife Paper Stone and Guns«, Techno mit geflüsterten Vocals, bei denen die Hörer*innen stets auf den Einsatz der Drums warten: ein wahrlich unhörbares Werk. Doch tatsächlich plante das Label, die Platte zu veröffentlichen. Zumindest für kurze Zeit. Am 24. Oktober 1997 erschien eine Vorabsingle mit drei Tracks des Projekts.
Außerdem schickte East West eine Presseankündigung samt Sellingpoints raus, auf der das Album für den 17. November desselben Jahres angekündigt wurde:
»Wer den Namen Andrew Eldritch hört, hat bestimmte Erwartungen. Doch die werden mit seinem neuen Projekt SSV höchst überraschend und konsequent unterlaufen: keine breitflächigen Soundlandschaften zwischen Endzeit-Drums und hypnotischen Vocals, sondern kühle, klare Beats und scharf konturierte Songstrukturen. Dance, Techno, Club in der eigenwilligen, immer unverkennbaren Lesart des Andrew Eldritch, der die europäische Rockmusik der 80er und 90er Jahre entscheidend prägte. Nie war der britische Musiker vereinnehmbar, immer Individualist, wenn er auch zahllose Fans anzog – als Konzertgänger und Plattenkäufer. SSV setzt diesen selbstbestimmten Weg der Avantgarde schlüssig, aufregend und zeitgemäß fort. Andrew Eldritch auf neuen Wegen.«
SSV: Go Figure (1997)
01. Nice
02. Knife Paper Stone and Guns
03. Two in the Nose
04. Bad Vultee
05. Gone
06. Drugsar
07. High School
08. Feel No Pain
09. Go Figure
10. Shut the Fuck Up
Sogar mindestens eine Anzeige wurde für das Album geschaltet und Promo-Tapes für die Presse verschickt. Irgendwann muss dann irgendwem beim Label aufgefallen sein, dass die Platte eine riesengroße Verarsche von Eldritch war, um aus dem Vertrag zu kommen. Letztendlich kam »Go Figure« nie in die Läden. Und die Sisters Of Mercy? Die touren weiterhin durch die Lande, aber selbst Donald Trumps Präsidentschaft verhalf den Fans zu keiner neuen Platte.
DIE UNVERÖFFENTLICHTE PLATTE ALS BLAUPAUSE
Es gibt nicht wenige Platten, bei denen die unveröffentlichte Platte zum Entstehungsprozess der letztendlich veröffentlichten Platte gehört. Oftmals ist es nur ein Arbeitstitel, der sich verselbstständigt und in Fan- Mythen weiterlebt. Manchmal ist es aber auch ein Projekt, das so viele Iterationen durchmacht, dass der Beginn kaum etwas mit dem Endergebnis zu tun hat. Folglich bleibt es meist den Fans selbst überlassen, ob sie das Album als eigenständiges Werk ansehen. Wie sehr muss sich die erschienene Platte von der nicht erschienen Platte unterscheiden, damit sie als unveröffentlichtes Album in die Historie eingeht? Ist NIRVANAs »In Utero« im ursprünglichen Mix von Steve Albini ein eigenständiges Album? Nur weil Scott Litt »Heart Shaped Box« neu mixte und Cobain dafür neue Backing-Vocals und eine Akustikgitarre aufnahm? Oder wegen des neuen Mixes zu »All Apologies«? Oder vielleicht doch, weil in letzter Minute der Song »I Hate Myself and Want to Die« vom Album gestrichen wurde? Für Albini ist die Sache klar: Das Album, das er lieferte, war gänzlich anders als das, was letztlich herauskam. Auch Bob Weston, der mit ihm zusammen die Aufnahmen ausführte, bestätigt diese Einschätzung. Erst 2003 erschien in England eine Vinyl-Neuauflage von »In Utero«, die auf Albinis ursprünglichen Mix zurückgriff. Allerdings wurden die Aufnahmen in den Abbey Road Studios remastered. Wer das Exemplar mit der Bestellnummer 424 536-1 sein Eigen nennt, wird feststellen müssen, dass die Unterschiede doch relativ marginal sind. Und auch Albini hat mit der Zeit seinen Frieden gefunden, das Wichtigste für ihn sei, dass die Platte, die in die Läden kam, eben die war, die die Fans hören sollten.
Cover des Promo-Tapes von »Verse Chorus Verse«
Aber ist es wirklich so einfach? Während des Entstehungsprozesses hatte »In Utero« nicht nur einen, sondern gleich zwei Arbeitstitel. Zum einen »Verse Chorus Verse«, ein Titel, der den generischen Aufbau von Popsongs aufgriff und zum anderen »I Hate Myself and Want to Die«, einen Titel, den Cobain selbst als »ziemlich negativ, aber auch irgendwie lustig« bezeichnete. Damals enthielt das Album auch noch einige Songs mehr. Darunter der temporäre Titelsong »Verse Chorus Verse«, der ebenfalls zusammen mit Albini eingespielt wurde. 1993 erschien er als Hidden-Track auf dem Benefiz-Sampler »No Alternative«. Unter dem Titel »Sappy« wurde er dann später auf dem Box-Set »With the Lights Out« sowie der Jubiläumsedition von »In Utero« 2013 verwertet. Auch der andere temporäre Titelsong, »I Hate Myself and Want to Die«, wurde mit Albini aufgenommen und erblickte das Licht der Welt auf einer Compilation (»The Beavis and Butt-Head Experience«), wurde aber von der finalen »In Utero«-Tracklist gestrichen, da das Album laut Cobain bereits genug lärmige Songs hatte.
Zumindest zeitweise waren »Verse Chorus Verse« und »I Hate Myself and Want to Die« sogar zwei eigenständige Alben. In seinen Tagebüchern schrieb Cobain, dass er als erstes die rohe Albini-Version mit insgesamt 14 Songs als »I Hate Myself and Want to Die« ausschließlich auf Vinyl, Kassette und 8-Track und ohne Promotion veröffentlichen wolle und einen Monat später dann die uns bekannte Version mit überarbeiteten »Heart Shaped Box« und »All Apologies« auf LP, CD und Kassette mit lediglich zwölf Titeln, allerdings unter dem Titel »Verse Chorus Verse« und nicht »In Utero«. Unklar bleibt, ob der andere Titel auch ein anderes Tracklisting impliziert hätte. Wir kennen also »In Utero« und vielleicht über Umwege sogar die Albini-Version mit dem identischem Tracklisting, aber mit Sicherheit kennen wir nicht das zeitweise geplante Album mit dem Titel »I Hate Myself and Want to Die«. Womöglich wäre auch diese Platte mit dem Titel »Verse Chorus Verse« ganz anders als »In Utero« gewesen.
BRUCE SPRINGSTEEN: THE TIES THAT BIND (1979)
01. The Ties That Bind
02. Cindy
03. Hungry Heart
04. Stolen Car [andere Version als auf »The River«]
05. Be True
06. The River
07. You Can Look (But You Better Not Touch) [Andere Version als auf »The River«]
08. The Price You Pay
09. I Wanna Marry You
10. Loose End
»The River« von BRUCE SPRINGSTEEN dagegen war zuerst gar nicht als Doppelalbum geplant und Springsteen hatte mit »The Ties That Bind« Ende 1979 bereits ein fertiges Uptempo-Album in der Tasche. Als er dann aber den ruhigen Song »The River« schrieb, war ihm klar, dass er das Stück nicht zurückhalten konnte. Der Song über ein junges Paar, das wegen einer ungewollten Schwangerschaft dasselbe gleichförmige Leben ihrer Eltern und Großeltern führen musste, erzählte die Geschichte von Springsteens Schwester Ginny. Gleichzeitig passte er aber auch von der Stimmung her nicht auf »The Ties That Bind«. Springsteen schrieb also weitere neue Songs und erweiterte das Album zur Doppel-LP. »Zu klein« erschien ihm die ursprüngliche Platte, und auch mit der Produktion und dem Sound war er unzufrieden. So wurden aus geplanten fünf Wochen Studiozeit geschlagene 18 Monate. »Stolen Car«, enthalten auf beiden Alben, unterscheidet sich jeweils stark im Arrangement. 2015 wurde das geplante Album letztlich in einem Box-Set so veröffentlicht, wie es ursprünglich geplant war, ergänzt um allerlei Bonusmaterial