Tour de France
Im Mai veröffentlichten Kraftwerk im Düsseldorfer Magazin Select eine erste Anzeige, die lediglich das Artwork von »Techno Pop« zeigte. Eine frühe Form des Guerilla-Marketings. Ohne Bandnamen und weiteren Infos war unklar, worum es hier eigentlich geht. Das Rätsel wurde aber schnell gelöst, da die EMI zusätzlich eine Anzeige in einem Branchenblatt schaltete und damit das neue Album samt Bestellnummer »Kling Klang IC 064-65087« ankündigte. Sehr zum Ärger von Ralf Hütter, der 2004 im Interview mit Susann Jakobus-Drechsler für das Nillson- Fanzine erzählte, dass die ganze Aktion nicht abgesprochen war.
Pünktlich zur Tour de France 1983 erschien die gleichnamige Single als Teaser für das kommende Album, um die Presse rund um das Sportereignis verkaufsfördernd mitzunehmen. Und tatsächlich kletterte das Stück im August bis auf Platz 22 der UK-Charts und bis auf Platz 47 in den deutschen Single-Charts. Nach dem großen Hit mit »Das Model«, der es 1982 bis auf Platz 1 der UK-Charts schaffte, dennoch eine Enttäuschung.
Kraftwerk waren auch weiterhin mit dem bisherigen Stand der Aufnahmen unzufrieden. In seiner Autobiografie »Der Klang der Maschine« schreibt Bartos, dass Hütter und er wussten, dass etwas mit den Mixes nicht stimme, und hatten sie das Gefühl, mit aktuellen Produktionen nicht mehr mithalten zu können. Weiterhin versuchten Kraftwerk, das fertige Material neu abzumischen. Immer wieder wurden neue Studios ausprobiert. Nachdem der Mix in den EMI-Studios in Köln erfolglos verlief, wurden neue Versionen im Kling-Klang-Studio abgemischt und abermals in Diskotheken getestet. Beeindruckt von New Orders »Blue Monday«, beschlossen Hütter, Schneider und Bartos, das Album ebendort zu vollenden, wo auch »Blue Monday« abgemischt worden war: in den Londoner Britannia Row Studios unter der Regie von Michael Johnson. Doch auch dieser Mix wurde verworfen.
Im November 1983 brachte Hütter François Kevorkian ins Spiel. Kevorkian verantwortete clubtaugliche Mixes und war deswegen Hütters Wahl. Einen ganzen Monat arbeitete Hütter mit Kevorkian in den Powerstation-Studios und kam doch zu keinem Ergebnis. Lediglich drei der vier Songs waren fertig abgemischt. Hütter war unzufrieden und auch Florian Schneider war nicht überzeugt. Statt die Aufnahmen zu verwerfen, sollte eine neue Platte um das bestehende Material entstehen. Die nächsten Monate wurde weiterhin an »Techno Pop« gearbeitet, das unter Zuhilfenahme moderner Produktionstechniken geremixt wurde. Um am Puls der Zeit zu bleiben, wurde das Album nun mit modernen, digitalen Produktionstechniken komplett überarbeitet. Bartos in seiner Autobiografie »Der Klang der Maschine« dazu:
»Man darf nicht vergessen, dass bis zu Computerwelt alles mit analogen Synthesizern eingespielt wurde und wir auf Magnettonband auf 16-Spur-Rekordern aufnahmen. Die Sachen Mitte der achtziger Jahre klangen damals cool und neu.«
Kraftwerk sollten auch weiterhin »cool und neu« klingen. Zu den bereits aufgenommenen Stücken kam nun erstmals ein neues Stück hinzu. »Boing Boom Tschack« fungierte als Intro zu »Techno Pop« und stellte Sprachsamples in den Mittelpunkt. Was für Hütter der Radsport wurde, war für Schneider die künstliche Spracherzeugung geworden, mit der er tagtäglich in einem eigenen Sprachlabor in den Kling-Klang-Studios experimentierte.
Im März 1984 kam Kevorkian nach Düsseldorf und half, das vorhandene Material zu mischen. Noch bis Mai arbeiteten Kraftwerk weiter an »Techno Pop«, das nun auch »Boing Boom Tschack« beinhaltete. Verworfen war die Idee also noch nicht. Im Mai trafen sich Schneider und Hütter mit der Künstlerin Rebecca Allen, um gemeinsam an der visuellen Umsetzung des Albums zu arbeiten.
Mit »Musique Non Stop«, das in erster Linie abermals auf Schneiders Sprachexperimenten mit dem Sprachsynthesizer Dectalk basierte, kam ein weiterer neuer Song zu den bisherigen Stücken hinzu. Die erste Seite war nun mit den Stücken »Boing Boom Tschack«, »Techno Pop« und »Musique Non Stop« komplett. Interessant ist, dass diese damit eine Einheit bildet, so wie es auch beim verworfenen »Techno Pop«-Konzept gewesen wäre. So werden Elemente der einzelnen Stücke untereinander aufgegriffen. »Boing Boom Tschack« enthält die Zeile »Techno Pop«, und »Techno Pop« selbst wiederum enthält die Zeile »Musique Non Stop«, während dieses Stück ein musikalisches Motiv aus dem vorherigen aufgreift.
Kevorkian kam im September 1985 erneut für Mixing-Sessions nach Düsseldorf und half dabei, Samples für »Der Telefon Anruf« aufzunehmen. Gleichzeitig wurde immer neues Equipment angeschleppt. Ein Linn-Sequencer machte die Arbeit von Wolfgang Flür überflüssig, der als Schlagzeuger immer weniger zu den Aufnahmen beitragen konnte. Eine frustierende Situation für Flür, der, anders als Bartos, Schneider und Hütter, keine Songwriting-Credits besaß und vor allem von den Einnahmen aus Live-Auftritten lebte. Flür fühlte sich zunehmend ausgeschlossen. In seiner Autobiografie schreibt er, dass die von Bartos im Song »Der Telefon Anruf« gesungene Zeile »Du bist mir nah und doch so fern« direkt auf die Stimmung der Band übertragen werden konnte. Obwohl sie weiterhin zusammenarbeiteten, waren sich die Musiker fremd geworden. Auch Bartos fand die andauernden Arbeiten an dem Album zunehmend ermüdend und sagte in einem Interview mit der Zeitschrift Keyboards von 1998 dazu: »Um ehrlich zu sein haben wir uns ein wenig in der Technologie verloren. Plötzlich, Mitte der 80er, erschien dieses ganze digitale Equipment. Also machten wir einen Schritt zurück und überdachten das Ganze und arbeiteten mit Midi und Sampling.«
Im Februar 1986 entstand »Electric Cafe«, das im Gegensatz zu den bisherigen Aufnahmen nach nur einer Woche fertig war. »Electric Café« ersetzte das bereits veröffentlichte »Tour de France« als Abschluss des Albums. Die zweite Seite war damit auch vollendet. Nach einem weiteren Versuch, die Platte im Kling-Klang-Studio abzumischen, wurde beschlossen, zu dritt nach New York zu reisen, um der Platte im Juni zusammen mit Kevorkian und Ron St. Germain im Right Track Studio den letzten Schliff zu geben. Am 21. Juli 1986 war es dann geschafft. »Electric Cafe«, so der neue Titel des Albums, war endlich fertig abgemischt.
Die Reaktionen auf das fertige Album waren durchwachsen. Einige lobten die Reduktion, doch für andere hatten Kraftwerk ihre Innovator-Rolle verloren. Recht haben wohl beide Parteien. Wäre »Techno Pop« 1983 erschienen, hätte es vielleicht mehr Eindruck hinterlassen, doch die Charts der Zwischenzeit wurden von elektronischen Produktionen dominiert. Popmusik wurde mittlerweile programmiert.
Stellt »Techno Pop« nun ein eigenes Album dar oder war es lediglich der Zwischenschritt zum fertigen »Electric Cafe«? Auch hier haben wohl beide Parteien recht. Letztlich sind die Überschneidungen sehr groß, sodass tatsächlich von einem Zwischenstand gesprochen werden kann. Gleichzeitig wären die Mixes und Aufnahmen doch gänzlich verschieden gewesen. Wolfgang Flür sagte in »Electri*City: Elektronische Musik aus Düsseldorf« dazu:
»Es gab immer wieder Gerüchte, wir hätten ein Album aufgenommen, das nie veröffentlicht wurde. Electric Cafe war jedoch das mehrfach überarbeitete Techno Pop-Album.«
Kraftwerk schlossen auf der Anthologie »Der Katalog« ihren Frieden mit der Platte. Ergänzt um das bereits in den 80ern als B-Seite erschienene »House Phone« heißt »Electric Cafe« dort wieder »Techno Pop«.
Dass viele vehement an die Existenz von »Techno Pop« als eigenständigem Album glauben, liegt nicht zuletzt an den erschienenen Anzeigen und verschiedenen Coverentwürfen, die diesen Arbeitstitel enthielten. Rebecca Allen, die sich auch für das »Electric Cafe«-Artwork sowie das Video zu »Musique Non Stop« verantwortlich zeigte, lieferte Entwürfe mit dem Ursprungstitel.
Die Irrungen und Wirrungen um »Techno Pop« stellten einen Wendepunkt in Kraftwerks Schaffen dar. Seit »Radio-Aktivität« von 1975 stand das klassische Line-Up von Kraftwerk, bestehend aus Hütter, Schneider, Bartos und Flür. Mit den Arbeiten zu »Techno Pop« kam der Bruch und Flür verließ die Band 1987. Bartos folgte im Frühjahr 1990. Für beide war »Electric Cafe« ein unbefriedigendes Album. Bartos ging sogar so weit, das Album als Totalschaden zu bezeichnen. Für das Bandgefüge von Kraftwerk war es das wohl auch.
GET BACK: WIE DAS ENDE DER BEATLES BEGANN
Als die BEATLES sich am 2. Januar 1969 in den Twickenham-Filmstudios einfanden, war die Band von Krisen erschüttert. Am 27. August 1967 starb deren Manager und enger Vertrauter Brian Epstein