knurrte. Keri wusste nicht mehr, ob sie überhaupt zu Mittag gegessen hatte.
Als sie in die Küche kam, sah sie ihren Partner Ray Sands, der gerade in den Kühlschrank blickte. Jedermann wusste, dass Ray alles aufaß, was nicht mit einem Namen versehen war. Keris Hühnchen-Salat stand glücklicherweise noch immer in einer der hinteren Ecken, wo sie ihn versteckt hatte. Ray war ein knapp zwei Meter großer, gute hundert Kilo schwerer Afroamerikaner. Sein Kopf war kahl rasiert, sein Körper muskulös und durchtrainiert. Wahrscheinlich hatte er Keris Essen noch nicht entdeckt, weil sie eines der unteren Regale dafür ausgesucht hatte.
Keri blieb im Türrahmen stehen und beobachtete seinen Hintern, während er tiefer in den Kühlschrank krabbelte. Ray war nicht nur ihr Partner, sondern auch ihr bester Freund. In letzter Zeit hatten sich ihre Gefühle füreinander verändert, sodass vielleicht mehr als nur Freundschaft zwischen ihnen war. Vor zwei Monaten war Ray angeschossen worden, als sie eine junge Frau aus den Fängen eines skrupellosen Entführers gerettet hatten. Seitdem stand diese Anziehungskraft halb ausgesprochen zwischen ihnen.
Keiner von beiden wollte den nächsten Schritt wagen. Wenn niemand bei ihnen war, flirteten sie miteinander und hin und wieder trafen sie sich bei ihr oder ihm, um zusammen einen Film anzuschauen.
Weiter waren sie jedoch bisher nie gegangen. Keri befürchtete, dass sowohl ihre Freundschaft als auch ihre Zusammenarbeit auf dem Spiel standen, falls es zwischen ihnen nicht funktionierte. Sie nahm an, dass Ray die gleichen Bedenken hatte, diese Sorge war schließlich auch berechtigt.
Sie beide waren von ihren ehemaligen Partnern geschieden und beide hatten es in ihrer Ehe mit der Treue nicht besonders genau genommen. Ray, ein ehemaliger Berufsboxer, hatte schon immer einen guten Schlag bei den Damen gehabt. Für Keri hingegen hatte die Entführung ihrer Tochter einfach alles verändert. Sie war ein einziges Nervenbündel und verlor immer wieder die Kontrolle über sich. Als Vorzeigepartner waren sie wohl aus dem Rennen.
Als Ray bemerkte, dass man ihn beobachtete, drehte er sich um. In der Hand hielt er ein angebissenes Sandwich. Da außer ihnen niemand im Raum war, warf er ihr einen verschmitzten Blick zu.
„Na, gefällt dir der Anblick?“
„Bilde dir bloß nichts ein, Hulk!“ Sie ließen sich immer neue Spitznamen füreinander einfallen, die auf den dramatischen Größenunterschied zwischen ihnen anspielte.
„Ganz wie Sie wünschen, Miss Bianca“, entgegnete er grinsend.
Plötzlich wurde er ernst. Er kannte sie sehr gut und sah ihr an, dass sie etwas beschäftigte.
„Was ist los?“, fragte er.
„Nichts“, sagte sie leise und ärgerte sich, dass der Sammler sie noch immer nicht losließ. Sie schob sich an ihm vorbei und holte ihren Hühnchen-Salat aus dem Kühlschrank. Im Gegensatz zu ihm erreichte sie das unterste Regal ohne jede Mühe. Auch wenn sie nicht so klein war, wie die bekannte Filmmaus Bianca, war sie verglichen mit Ray tatsächlich eine Art Liliputaner.
Sie spürte, dass er sie beobachtete, aber sie war nicht in der Stimmung über das, was sie gerade beschäftigte, zu reden. Wenn sie ihm von der E-Mail des Sammlers erzählte, würde er jedes einzelne Detail besprechen wollen. Sie versuchte aber, nicht daran zu denken, um nicht vollends den Verstand zu verlieren.
Aber es gab noch einen anderen Grund. Keri wurde von einem dubiosen Anwalt namens Jackson Cave überwacht, der aus irgendeinem unverständlichen Grund Pädophile und Kindesentführer vor Gericht vertrat. Um an Informationen über den Sammler zu kommen, war sie in sein Büro eingebrochen und hatte eine geheime Datei kopiert.
Als sie sich zum letzten Mal begegnet waren, hatte Cave angedeutet, dass er Bescheid wusste und sie nicht mehr aus den Augen lassen würde. Sie hatte sofort begriffen, worauf er anspielen wollte. Seitdem hatte Keri streng darauf geachtet, nur in sicheren Umgebungen über den Sammler zu reden.
Wenn Cave herausfand, dass sie hinter dem Sammler her war, würde er ihn vermutlich warnen. Vielleicht würde Keri ihn dann niemals erwischen – und damit die letzte Chance verspielen, ihre Tochter zu finden. Auf keinen Fall würde sie hier darüber sprechen.
Ray wusste jedoch nichts davon, deswegen bohrte er nach.
„Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt“, sagte er.
Keri überlegte sich gerade, wie sie ihn möglichst elegant abwimmeln konnte, als ihr Chef hereinkam. Lieutenant Cole Hillman, ihr direkter Vorgesetzter, sah weit älter aus, als er eigentlich war. Er hatte tiefe Falten auf der Stirn, graues Haar und einen beachtlichen Bierbauch, den er nicht einmal unter den übergroßen Hemden, die so etwas wie sein Markenzeichen waren, verbergen konnte. Dazu trug er ein Jackett, das mindestens eine Nummer zu klein war und eine Krawatte, die lächerlich locker um seinen Hals hing.
„Gut, dass ich Sie beide zusammen antreffe“, begann er. „Mitkommen, es gibt einen neuen Fall.“
Sie folgten ihm in sein Büro und nahmen auf der Couch Platz, die an einer Wand stand. Da Keri bereits ahnte, dass sie keine Zeit mehr zum Essen haben würde, schlang sie ihren Salat herunter, während Hillman redete. Ray hatte sein gestohlenes Sandwich bereits vernichtet.
„Das vermeintliche Opfer heißt Sarah Caldwell, weiblich, sechzehn Jahre alt, aus Westchester. Seit ein paar Stunden wird sie vermisst. Ihre Eltern haben mehrfach erfolglos versucht, sie zu erreichen.“
„Sie rufen die Polizei, weil ihr Teenager nicht ans Handy geht?“, fragte Ray skeptisch. „Klingt wie eine ganz normale amerikanische Familie.“
Keri sagte nichts, obwohl sie im Allgemeinen dazu neigte, anderer Meinung als Ray zu sein. Sie hatten schon oft über diesen Punkt diskutiert. Keri fand, dass er zu lange damit zögerte, solche Fälle anzunehmen. Er war hingegen der Meinung, dass Keri aufgrund ihrer persönlichen Hintergründe dazu neigte, voreilige Schlüsse zu ziehen. Es war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen und darauf hatte sie jetzt keine Lust. Es war auch gar nicht nötig, denn heute schien Hillman ihre Rolle zu übernehmen.
„Das dachte ich zuerst auch“, sagte Hillman, „aber sie bestehen darauf, dass ihre Tochter sich gemeldet hätte, wenn sie sich dermaßen verspätete. Außerdem wollten sie sie mithilfe einer Handy-App orten, aber das Handy ist ausgeschalten.“
„Das überzeugt mich nicht“, beharrte Ray.
„Vielleicht haben Sie recht und es steckt nichts dahinter. Aber diese Leute waren wirklich beharrlich, fast schon panisch. Und sie haben sofort darauf hingewiesen, dass die Wartefrist von 24 Stunden bei einer Vermisstenmeldung nicht auf Minderjährige zutrifft. Da Sie beide momentan keine dringenden Fälle haben, habe ich ihnen versprochen, dass ich jemanden schicke um ihre Aussage aufzunehmen. Vielleicht ist das Mädchen bis dahin ja wieder aufgetaucht. Es kann jedenfalls nicht schaden, bei ihnen vorbeizuschauen und man kann uns hinterher nichts vorwerfen.“
„Klingt einleuchtend“, sagte Keri und kaute gerade auf ihrem letzten Bissen herum.
„Dir leuchtet es natürlich ein“, murmelte Ray, während er die Adresse von Hillman entgegennahm. „dann hast du wenigstens etwas zu tun und ich muss mitspielen.“
„Du spielst doch gerne mit“, sagte Keri und ging vor ihm aus dem Büro.
„Bitte tun Sie wenigstens so, als wären Sie professionell, wenn Sie zu den Caldwells gehen“, rief Hillman hinter ihnen her. „Sie sollen das Gefühl haben, dass man sie ernst nimmt.“
Keri entsorgte ihre Salatverpackung in einem Mülleimer und machte dich direkt auf den Weg zum Parkplatz. Ray trabte hinter ihr her. Als sie das Gebäude verließen, lehnte er sich zu ihr.
„Das bedeutet nicht, dass ich dich vom Haken lasse – ich weiß genau, dass du mir etwas verheimlichst. Du kannst es mir jetzt sagen, oder später. Aber früher oder später wirst du mit mir reden müssen.“
Keri bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen. Sie hatte wirklich vor, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen, schließlich war er ihr Partner, bester Freund