ist. Das ist noch nie vorgekommen.“
Es war dieses beunruhigende Detail, das wie eine Drohung alles andere überschattete. Keri wollte schnell zur nächsten Frage kommen, bevor sich Panik breitmachte.
„Mr. und Mrs. Caldwell, darf ich fragen, warum Sarah heute nicht in der Schule war? Es ist Freitag.“
Die Eltern sahen sie erstaunt an. Selbst Ray machte ein überraschtes Gesicht.
„Gestern war Thanksgiving. Heute ist schulfrei“, klärte Mariela sie auf.
Keris Brust zog sich zusammen. Nur Eltern waren sich solcher Details bewusst. Sie zählte nicht mehr dazu.
Evie wäre jetzt dreizehn Jahre alt. Unter normalen Umständen hätte sie sich für heute etwas überlegen müssen, um sich nicht von der Arbeit frei nehmen zu müssen. Aber normale Umstände gab es in ihrem Leben schon lange nicht mehr.
Die Rituale um Schulferien und Familienurlaub waren in den vergangenen Jahren so weit verblasst, dass sie sich kaum mehr daran erinnerte.
Jetzt wollte sie etwas zu ihrer Verteidigung sagen, aber alles, was sie herausbekam, war ein unkontrolliertes Husten. Als ihr die erste Träne in die Augen stieg, senkte sie den Kopf, damit die anderen es nicht mitbekamen. Ray schaltete sich ein.
„Sarah hatte also den ganzen Tag frei, aber Sie nicht?“, fragte er.
„Nein“, antwortete Ed. „Ich besitze einen kleinen Malerladen im Westchester-Dreieck. Ich kann mir nicht erlauben, den Laden öfter als nötig zu schließen – Thanksgiving, Weihnachten, Neujahr – das sind so ziemlich die einzigen freien Tage, die ich mir nehmen kann.“
„Ich arbeite als Anwaltsgehilfin bei einer großen Kanzlei in El Segundo. Ich wollte mir heute frei nehmen, aber wir müssen uns auf einen wichtigen Fall vorbereiten, bei dem alle Mitwirkenden gebraucht werden.“
Keri räusperte sich. Sie hatte sich soweit zusammengerissen, dass sie sich an der Unterhaltung wieder beteiligen konnte.
„Wer ist diese Freundin, mit der Sarah sich treffen wollte?“, fragte sie.
„Sie heißt Lanie Joseph“, antwortete Mariela. „Sie war Sarahs beste Freundin, als sie noch gemeinsam zur Grundschule gingen. Doch dann sind wir umgezogen und seitdem haben sie kaum mehr Kontakt. Ehrlich gesagt wäre mir lieber gewesen, wenn es dabei geblieben wäre.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keri.
Mariela zögerte einen Augenblick und Ed antwortete für sie.
„Wir haben in Culver City Süd gewohnt. Es ist zwar nicht weit von hier, aber die Gegend ist doch völlig anders. Die Menschen dort haben es nicht leicht und das merkt man bereits den Kindern an. Lanie hat eine Art an sich, die uns nicht immer gefallen hat. Schon als sie jung war, ging es uns so, aber jetzt ist es noch schlimmer geworden. Ich möchte niemanden verurteilen, aber wir haben den Eindruck, dass sie einen gefährlichen Weg eingeschlagen hat.“
„Wir haben lange gespart“, mischte sich Mariela wieder ein. Sie wollte offenbar nicht länger negativ über andere Menschen reden. „Als Sarah in die Mittelstufe kam, sind wir dann hierher gezogen. Wir haben dieses Haus gekauft, kurz bevor die Preise explodiert sind. Das Haus ist klein, aber wir sind froh, dass wir es haben. Es war nicht einfach, aber wir hätten alles dafür getan, dass Sarah in einer besseren Gegend aufwächst.“
„Die beiden hatten also nicht mehr viel Kontakt“, schloss Ray. „Wieso gerade jetzt?“
„Sie haben sich noch ein paarmal pro Jahr getroffen“, erklärte Ed. „Sarah hat uns erzählt, dass Lanie ihr gestern geschrieben hatte, dass sie sie heute unbedingt treffen wollte. Sie sagte aber nicht, warum.“
Mariela sah traurig aus. „Sarah ist so ein liebes, hilfsbereites Mädchen, sie kommt ohne zu zögern jeder Bitte nach. Gestern Nacht sagte sie zu mir ‚Was für eine Freundin wäre ich, wenn ich nicht für sie da wäre, wenn sie mich braucht?‘“
Marielas Stimme versagte.
Keri sah, wie Ed ihre Hand in stiller Unterstützung drückte und beneidete sie dafür. Selbst in dieser ungewissen Situation waren sie eine liebevolle Einheit, beendeten die Sätze des anderen und spendeten sich moralischen Beistand. Es wirkte fast, als würde ihre Liebe ihnen die Kraft geben, all das durchzustehen. Keri erinnerte sich an eine Zeit, in der sie geglaubt hatte, das gleiche zu haben.
„Hat Sarah erwähnt, wo sie sich treffen wollten?“, fragte sie.
„Nein, bis heute Mittag hatten sie noch nichts ausgemacht. Ich bin aber sicher, dass sie sich irgendwo in der Nähe getroffen haben – vielleicht im Howard Huges Center oder in der Fox Hills Mall. Sarah hat noch keinen Führerschein, sie würde einen Ort auswählen, den sie leicht mit dem Bus erreichen konnte.“
„Können Sie uns vielleicht ein paar Fotos von ihr geben?“, fragte Keri Mariela, die sofort aufstand.
„Ist Sarah in den sozialen Netzwerken aktiv?“, fragte Ray.
„Sie ist auf Facebook, Instagram und Twitter. Sonst weiß ich nichts. Warum?“, fragte Ed.
„Manchmal findet man wichtige Hinweise in den Profilen der Kids. Haben Sie denn Zugriff auf ihre Accounts?“
„Nein“, sagte Mariela und zog ein Foto nach dem anderen aus den Bilderrahmen. „Wir hatten nie einen Grund, danach zu fragen. Sie zeigt uns aber ständig ihre Einträge und Posts. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie irgendetwas vor uns verheimlicht. Auf Facebook sind wir sogar befreundet. Können Sie sich nicht den Zugang verschaffen?“
„Doch, das können wir“, sagte Keri. „Aber das dauert, wenn wir die Passworte nicht haben. Zuerst brauchen wir eine gerichtliche Verfügung. Nach der aktuellen Lage haben wir keine ausreichende Begründung dafür.“
„Nicht einmal, wenn ihr GPS ausgeschaltet ist?“, fragte Ed.
„Das hilft unserem Gesuch“, sagte Keri, „aber momentan ist das bestenfalls nebensächlich. Sie haben uns ausführlich dargelegt, warum diese Situation außergewöhnlich ist, aber auf dem Papier wird das nicht reichen um einen Richter zu überzeugen. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wir stehen noch ganz am Anfang. Unser nächster Schritt ist es, die Ermittlungen einzuleiten. Ich möchte bei Lanie und ihrer Familie beginnen. Haben Sie ihre Adresse?“
„Ja“, sagte Mariela und übergab Keri eine Handvoll Fotos, bevor sie ihr Handy nach dem entsprechenden Kontakt durchsuchte. „Leider bin ich nicht sicher, ob das eine Hilfe ist. Lanies Vater ist nicht mehr bei seiner Familie und ihre Mutter ist… nun… eher unbeteiligt. Trotzdem, hier ist die Adresse.“
Keri schrieb sich auf, was sie wissen musste und dann begaben sich alle wieder zur Haustür. Sie verabschiedeten sich mit einem förmlichen Handschlag, was Keri seltsam vorkam, nachdem sie sich gerade über solch vertrauliche Themen unterhalten hatten.
Sie und Ray waren schon fast bei ihrem Wagen, als Edward Caldwell ihnen eine letzte Frage hinterherrief.
„Entschuldigen Sie, aber Sie sagten, dass das erst der Anfang ist. Das klingt nach einem langen Prozess. Ich habe einmal gehört, dass die ersten 24 Stunden nach dem Verschwinden einer Person die wichtigsten sind. Ist das wahr?“
Keri und Ray tauschten einen stummen Blick aus, bevor sie sich an Caldwell wandten. Sie wussten nicht genau, was sie antworten sollten. Ray übernahm es schließlich.
„Das ist wahr, Sir, aber noch gibt es keinen Beweis, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hat. Es ist gut, dass Sie sich sofort gemeldet haben. Ich weiß, dass es für Sie schwer ist, aber versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen. Ich verspreche, dass wir uns bald melden werden.“
Damit stiegen sie in ihren Wagen. Als Keri ganz sicher war, dass man sie nicht mehr hören konnte, murmelte sie: „Gut gelogen.“
„Ich habe