gehen.
KAPITEL ZWEI
Als sie beim Haus der Caldwells ankamen, hatte Keri plötzlich ein schlechtes Gefühl im Bauch.
Immer wenn sie die Eltern eines möglichen Entführungsopfers traf, wurde sie an den Moment erinnert, in dem ihre eigene kleine Tochter von einem böswilligen Fremden mit einer tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe über die Wiese davongetragen wurde.
Sie spürte die Panik in ihrer Kehle, wie sie dem Mann auf dem Parkplatz hinterherrannte und sah wieder, wie er Evie in seinen weißen Van warf wie eine alte Puppe. Sie spürte den Schrecken, als sie mit ansehen musste, wie dieser Mann den Teenager erstach, der ihn aufhalten wollte.
Sie spürte förmlich, wie die Kieselsteinchen ihre nackten Füße aufschnitten, als sie verzweifelt versuchte, den Van einzuholen, der bereits aus dem Parkplatz auf die schmale Straße bog. Sie durchlebte noch einmal die Hilflosigkeit, als sie bemerkte, dass sie es nicht schaffen würde, dass der Van keine Nummernschilder hatte, dass sie ihn der Polizei kaum beschreiben konnte.
Ray wusste, wie schwer diese Momente für sie waren. Er saß stumm auf dem Fahrersitz und ließ ihr einen Augenblick Zeit, um mit ihren Emotionen klar zu kommen und sich auf das bevorstehende Gespräch vorzubereiten.
„Alles okay?“, fragte er, als ihr Körper sich schließlich entspannte.
„Fast“, sagte sie und klappte den Spiegel in der Sonnenblende herunter, um sicherzugehen, dass man ihr nichts ansehen konnte.
Ihr Spiegelbild sah um einiges gesunder aus, als noch vor ein paar Monaten. Von den schwarzen Augenringen und den roten Adern in ihren Augen war nichts mehr zu sehen. Ihre Haut war nicht mehr so fleckig und ihr blonder Pferdeschwanz war nicht mehr so fettig und zerzaust.
Keri ging auf ihren sechsunddreißigsten Geburtstag zu, aber sie sah so gut aus, wie schon lange nicht mehr – seit Evie ihr vor fünf Jahren genommen wurde. Vielleicht lag es daran, dass der Sammler wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Vielleicht lag es aber auch an den Gefühlen, die sie für Ray hatte. Wahrscheinlich hatte auch ihr Umzug dazu beigetragen, dass es ihr wieder besser ging. Endlich hatte sie ihr heruntergekommenes Hausboot gegen festen Boden unter den Füßen eingetauscht. Es könnte aber auch daran liegen, dass sich ihr Whiskeykonsum in den vergangenen Wochen stark reduziert hatte.
Woran es auch liegen mochte, sie hatte bemerkt, wie die Männer ihr wieder hinterhersahen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sie das Gefühl, das Chaos in ihrem Leben wieder unter Kontrolle zu haben.
Sie klappte die Sonnenblende wieder nach oben und wandte sich an Ray.
„Bin bereit“, sagte sie.
Als sie zur Haustür gingen, sah Keri sich die Nachbarschaft an. Sie waren am nördlichsten Ende von Westchester, unweit vom 405 Freeway und nur wenige Meilen südlich vom Howard Hughes Center, einem großen Einzelhandels- und Bürokomplex, der die Skyline dieses Stadtteils dominierte.
Westchester hatte den Ruf einer ruhigen Arbeiterschicht. Die meisten Häuser waren bescheidene, einstöckige Einfamilienhäuser. Doch selbst diese Beschaulichen Unterkünfte waren in den vergangenen fünf Jahren so rasant im Preis gestiegen, dass sich die Gemeinschaft jetzt aus einer Mischung von Alteingesessenen, die ihr ganzes Leben hier verbracht hatten, und jungen Arbeiterfamilien, die neu hinzugezogen waren, zusammensetzte.
Noch bevor Keri und Ray die Haustür erreichten, wurde diese bereits geöffnet und ein sichtbar beunruhigtes Pärchen erschien vor ihnen. Keri war überrascht über ihr Alter. Die Frau war eine zierliche Lateinamerikanerin mit einem strengen Kurzhaarschnitt, die bestimmt Mitte fünfzig war. Sie trug einen ausgetragenen Hosenanzug und gepflegte, aber alte schwarze Schuhe.
Der Mann war etwa einen Kopf größer als sie. Er war blass und sein blond-graues Haar wurde bereits dünner. Eine Lesebrille hing an einem Band um seinen Hals. Er war mindestens so alt wie seine Partnerin, wahrscheinlich ging er sogar schon auf die sechzig zu. Er trug eine Jogginghose und ein einfaches Hemd. Seine braunen Halbschuhe waren abgewetzt und seine Schnürsenkel nur halbherzig gebunden.
„Sind Sie die Detectives?“ fragte die Frau und streckte ihnen die Hand hin, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Jawohl, Ma’am“, antwortete Keri. „Ich bin Detective Keri Locke von der Einheit für Vermisste Personen des LAPD und das ist mein Partner, Detective Raymond Sands.“
„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Ray.
Die Frau winkte sie herein.
„Vielen Dank, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich bin Mariela Caldwell. Das hier ist mein Mann, Edward.“
Edward nickte nur zustimmend. Keri spürte ihre Unsicherheit und beschloss, direkt zum Punkt zu kommen.
„Warum setzten wir uns nicht, damit Sie uns erklären können, warum Sie sich solche Sorgen machen.“
„Natürlich“, sagte Mariela und führte die beiden Polizisten durch einen schmalen Gang, in dem unzählige Fotos von einem dunkelhaarigen Mädchen hingen, das herzlich in die Kamera lächelte. Es mussten mindestens zwanzig Fotos sein, die sie von frühestem Kindesalter bis heute zeigten. Sie kamen zu einer kleinen, gemütlichen Sitzecke. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, oder einen Snack vielleicht?“
„Vielen Dank, Ma’am. Das ist nicht nötig“, antwortete Ray, während er versuchte sich auf die winzige Sitzbank zu zwängen. „Lassen Sie uns direkt beginnen. Wir brauchen möglichst viele Informationen. Soweit wir wissen, hat Sarah sich erst seit ein paar Stunden nicht mehr gemeldet. Warum sind Sie so besorgt?“
„Es sind fast fünf Stunden“, brummte Edward, der sich jetzt zum ersten Mal zu Wort meldete. Er setzte sich Ray gegenüber. „Sie hat ihre Mutter heute Mittag angerufen und gesagt, dass sie eine Freundin treffen will, die sie lange nicht mehr gesehen hat. Jetzt ist es fast fünf Uhr. Sie weiß genau, dass sie sich alle paar Stunden melden soll, wenn sie länger weg bleibt. Normalerweise würde sie wenigstens eine SMS schicken, damit wir wissen, wo sie ist.“
„Hält sie sich denn immer daran?“, fragte Ray so neutral, dass nur Keri die unterschwellige Skepsis heraushören konnte. Beide Caldwells schwiegen einen Augenblick. Keri befürchtete schon, dass diese Frage sie beleidigt hatte, als Mariela schließlich antwortete.
„Detective Sands, ich verstehe, dass das für Sie vielleicht schwer zu glauben ist, aber ja. Sie hält sich immer daran. Ed und ich waren nicht mehr ganz jung, als wir Sarah bekommen haben. Nach vielen vergeblichen Versuchen wurden wir schließlich mit diesem Geschenk des Himmels belohnt. Sie ist unser einziges Kind und ich muss zugeben, dass wir beide besonders – wie sagt man – fürsorglich sind.“
„Typische Helikopter-Eltern“, fügte Ed hinzu und lächelte liebevoll.
Auch Keri lächelte. Sie konnte die beiden gut verstehen.
Dann redete Mariela weiter: „Jedenfalls weiß Sarah, dass sie unser Ein und Alles ist und so unglaublich es auch klingen mag, sie ist es gerne. Sie backt mit mir an den Wochenenden, sie besteht jedes Jahr darauf, Ed zum Familientag auf der Arbeit zu begleiten, sie ist vor ein paar Monaten sogar freiwillig mit mir auf ein Konzert von Motley Crue gegangen. Sie ist ebenso vernarrt in uns, wie wir in sie. Gerade weil sie weiß, wie wichtig sie uns ist, hält sie uns immer auf dem Laufenden. Wir haben eine Abmachung, dass sie uns immer eine SMS schreibt, wo sie ist. Dass sie sich alle zwei Stunden bei uns meldet, haben wir nie von ihr verlangt. Das war ihre eigene Regel.“
Keri beobachtete die beiden genau. Marielas Hand lag in der von Ed. Er streichelte sanft ihren Handrücken, während sie sprach. Erst als sie alles gesagt hatte, ergriff er das Wort.
„Selbst wenn sie es heute wirklich zum ersten Mal vergessen hätte sich zu melden, wäre sie niemals so lange ohne Empfang. Wir sind mitten in einer Großstadt. Wir haben sie hundertmal angerufen und Nachrichten geschrieben. In meiner letzten habe ich ihr mitgeteilt, dass ich mich an die Polizei