macht mich nicht nervös. Geh jetzt heim, Jule, du störst. Um neun Uhr bei Stadlers!«
Jule eilte heim. Nun war es endlich Zeit, daß er gehen konnte. Er wollte sich sehr kurz vom Meister verabschieden, mußte jedoch noch Ermahnungen über sich ergehen lassen. Er wollte zuhören; doch in seinem Hirn spukte ein blauer Wagen, eine stundenlange Fahrt, Zahlen wirbelten durch seinen Kopf, es war unmöglich, auf die Worte des Meisters zu lauschen.
Und nun kam auch noch die Meisterin. Schließlich Sabine. Alle hatten gute Ratschläge, und Jule stand wie auf glühenden Kohlen. In einer Viertelstunde war es neun. Welch ein Glück, daß Meister und Meisterin abgerufen wurden.
Mit langen Sätzen jagte der Jule davon, auf halbem Wege fiel ihm ein, daß er den Hut im Vorgarten auf der Bank liegengelassen hatte. Er hetzte zurück, setzte den Koffer nieder, wischte die Tropfen von der Stirn, griff nach dem Hut und eilte wieder davon.
Das Auto stand bereits vor der Tür, im Parterrezimmer war Professor Bender mit seiner Frau und Pommerle. Pommerle empfing Jule mit einem Freudenschrei, fiel ihm um den Hals und jauchzte:
»Jetzt geht es zur Ostsee!«
Nun ging es ans Einsteigen. Der Chauffeur nahm das Köfferchen von Pommerle und schob es hinten in einen großen Kasten. Neugierig standen die beiden Kinder neben ihm.
»Und Ihr Koffer, junger Mann?«
Jule wurde erst blaß, dann krebsrot. Die Glieder wurden ihm schwer.
Nun war alles aus! Als er den vergessenen Hut holte, hatte er den Koffer im Vorgarten stehen lassen. Zu Wasser die große Freude, zu Wasser die schöne Reise, man würde ihn nicht mitnehmen, weil er seinen Koffer vergessen hatte.
»Nun, junger Mann, haben Sie keine Sachen mitgenommen?«
Jule warf einen verlöschenden Blick auf Pommerle.
»Hast du keinen Koffer?«
»Er steht im Garten, – ich habe ihn vergessen«, hauchte Jule.
»Oh, – – lauf rasch und hole ihn!«
»Es ist doch neun«, klang es so todtraurig zurück, als wäre alles für den Jule zusammengebrochen und vernichtet.
Der Professor hatte den kurzen Wortwechsel mit angehört. »Jule, Jule, was bist du für ein Faselfritze. Ohne Koffer kannst du natürlich nicht fahren. Wenn du dich beeilst – –«
Schon wollte der Jule fortstürmen, da hielt Stadler den erregten Knaben fest. »Wir werden den Koffer holen. Wir fahren bei deinem Meister vor. Wir haben Zeit genug.«
Alles Leid wandelte sich in diesem Augenblick bei Jule in übergroße Seligkeit. I. K. 37 985 würde beim Meister Vorfahren. Die Meisterin würde den seinen blauen Wagen sehen, Jule saß auf Polstern und fuhr in die weite Welt hinaus, und der Meister hobelte vielleicht oder leimte.
»Wir fahren vor – –« stieß er zitternd heraus. »Beim Meister! Ach, – das ist die Belohnung für die gute Tat!«
»Nun einsteigen!«
Stadler und Frau nahmen die beiden hinteren Plätze ein, der Chauffeur klappte die beiden Polsterstühle auf, Pommerle sprang in den Wagen – Stadler stieß einen Schmerzensschrei aus.
»Pommerle, meine Füße!«
Endlich saß das Kind, und nun fiel etwas Langes, Dünnes in den Wagen hinein. Es war Jule, der in seiner Erregung übersehen hatte, daß er hochsteigen mußte. Aber im selben Augenblick stellte auch Pommerle fest, daß es dem Vati noch einen Abschiedskuß geben müsse. Die Kleine war aufgestanden und purzelte auf den Jule.
»Kinder, Kinder, das kann ja nett werden«, lachte Stadler. »Sucht erst mal eure Knochen zusammen und setzt euch hin.«
Jule hielt sich den Kopf. Er hatte sich ziemlich stark geschlagen.
»Ich muß noch mal 'raus«, zeterte Pommerle.
»Ihr bleibt jetzt sitzen«, entschied Frau Bender. »Du hast dem Vater schon einen Abschiedskuß gegeben. – Aber willst du nicht endlich aufstehen, Jule?«
Doch der Jule war so ungeschickt, daß er beim Aufstehen den Klappsessel wieder umklappte und sich beinahe auf den Fußboden des Wagens gesetzt hätte, wenn nicht der Chauffeur hilfreiche Hand geleistet hätte.
Endlich war es soweit, das Auto setzte sich in Bewegung, Pommerle wirtschaftete, nach rückwärts Grüße sendend, derartig im Wagen herum, daß der kleine Sessel krachte. Jule dagegen saß steif und still da, reckte sich höher und immer höher, drückte schließlich sein Gesicht an die Scheibe; man sollte sehen, daß er, der Lehrling, in I. K. 37 985 fuhr.
Vor Meister Reicharts Haus wurde angehalten.
»Wenn ich bitten dürfte«, sagte Jule, »machen Sie mal mit der Tute tüchtig Krach. Bitte, bitte!«
»Willst du nicht aussteigen und den Koffer holen?« sagte Frau Stadler.
»Bitte, zuerst mal kräftig tuten!«
Der Chauffeur hupte, dann stieg Jule aus. Aber er ging nicht nur in den Vorgarten, um den dort stehenden Koffer zu holen, er rief laut nach dem Meister und der Meisterin, nach Sabine, nach dem Gesellen und dem jüngsten Lehrling. Alle kamen herbei. Jule stand wie ein Herrscher unter ihnen und sagte herablassend:
»Draußen steht unser Wagen, mit dem fahren wir nu weiter.«
»Was willst du denn noch hier, Jule? Hast du vielleicht noch was vergessen?«
Da steckte der Lehrling den Kopf zwischen die Schultern, griff nach dem Koffer und sagte kleinlaut: »Ich wollte nur sagen, daß wir jetzt fahren.«
Doch die Meisterin wußte sofort, was geschehen war, als der Chauffeur nach Jules Koffer griff, um auch ihn in den rückwärtigen Kofferkasten zu legen.
»Vergiß nur den Kopf nicht, Jule«, lachte sie. »Und nun gute Fahrt und recht viel Vergnügen!« –
Unterwegs belustigten sich Stadlers heimlich über die beiden Kinder, die ihre Freude so verschieden zum Ausdruck brachten. Während Pommerle von Zeit zu Zeit die Arme ausbreitete und von der Ostsee zu schwärmen begann, während sie sich von Zeit zu Zeit umwandte und Stadlers Kußhände zuwarf, saß der Jule kerzengerade auf seinem Platz, machte das Fenster auf und wieder zu; er schien vor Stolz platzen zu wollen, daß er im Auto fahren konnte. Von Zeit zu Zeit machte er die kleine Scheibe auf, die ihn vom Chauffeur trennte, und flüsterte ihm zu:
»Wir bitten etwas langsamer zu fahren, man kann uns sonst nicht erkennen.«
Schließlich wurde Station gemacht. Der Jule war nicht zu bewegen, mit ins Hotel zu kommen.
»Ich möchte lieber bei unserem Wagen bleiben.«
Wie würde man ihn anstaunen! Jeder mußte denken, daß es sein Wagen sei, wenn er daneben stehe.
Aber er mußte doch mitkommen, um einen Imbiß einzunehmen, lief aber sehr bald wieder davon und stand neben dem Wagen. Er gab sich den Anschein, als betrachte er das Auto mit Kennerblicken. Und als nun gar ein Herr zu ihm trat und den schönen Wagen lobte, warf sich der Jule stolz in die Brust:
»Ja, wir haben sehr gut daran gekauft. Er fährt famos!«
»Sechs Zylinder?«
Das war für den Jule ganz etwas Neues. Er verstand die Frage nicht.
»Oder sind es mehr?«
»Viel mehr!«
Schließlich fuhr man weiter. Jule stolperte beim Einsteigen abermals, denn noch immer war seine Erregung nicht abgeebbt. Jedesmal, wenn man durch eine Ortschaft fuhr, fühlte er sich reicher als ein Millionär, und der Gedanke, daß man in Stettin in einem Hotel absteigen und schlafen werde, daß wieder Kellner um ihn herumspringen würden, wie das damals im Riesengebirge der Fall gewesen war, trieb seinen Stolz auf die Spitze.
Pommerle plapperte viel von der Ostsee, von den Spielkameradinnen, von den Freunden des Vaters und hoffte auf das Wiedersehen