Das gebräunte Gesicht Jules wurde blaß.
»Unten ist Pommerle nicht,« erwiderte er.
»Ja, wo ist das Kind denn dann hingelaufen?«
»Vielleicht hat sich die Kleine irgendwo versteckt.«
»Nein, auch das nicht, wir haben schon nach ihr gesucht. Sie wird sicherlich wieder nach unten gegangen sein. Die Kleine war sehr verängstigt und verweint.«
»Man muß sie doch suchen.«
»Ist die Kleine deine Schwester?«
»Nein, sie wollte auf die Schneekoppe, und da sind wir eben zusammen losgegangen.«
»Du hast sie doch aber allein gelassen. Das Kind kam mutterseelenallein hier an.«
Jule wurde blutrot. »Ich – ich – habe mir erst noch etwas Geld verdient.«
»Hast du das kleine Ding etwa alleine gehen lassen?«
»Ich wollte gleich nachkommen, und dann habe ich sie nicht mehr gefunden.«
»Du garstiger Schlingel, na warte nur, der Rübezahl wird dir beide Ohren abreißen. Wo soll man nur das Kind finden?«
Jule würgte an aufsteigenden Tränen. »Man muß eben nach ihr suchen.«
Man telephonierte hinunter ans Schlesierhaus, desgleichen nach der Riesenbaude, aber nirgends hatte man von dem Kinde wieder etwas gesehen.
»Sie ist nicht in den Bauden,« sagte der Koppenhauswirt zu Jule und schaute den Knaben ernst an. »Was sagen denn deine Eltern dazu?«
»Ich habe keine Eltern.«
»Na, und das kleine Mädchen?«
»Das ist in Krummhübel bei Verwandten.«
»Und da hast du das kleine Ding mitgenommen? Ihr scheint beide recht unartige Kinder zu sein.«
»Man muß doch nach ihr suchen,« beharrte Jule.
»Wo denn?«
»Vielleicht ist sie hinab nach Aupa gegangen.«
»Man kann nichts weiter tun, als die Umgegend absuchen. Vielleicht sitzt das Kind irgendwo im Geröll.«
»Ich muß das Pommerle suchen.«
Der Knabe wollte davoneilen. Da hielt man ihn zurück.
»Erst iß mal einen Bissen, Junge,« sagte der gutmütige Baudenwirt. »Hast zwar keine Mahlzeit, sondern eine gehörige Portion Prügel verdient, und dann mache dich auf die Suche. Auch ich will mich umtun, will nochmals telephonieren, und du kommst bis zum Abend wieder zurück, um Bescheid zu bringen. Ein Nachtlager kannst du hier oben haben.«
Jule verschmähte zwar sonst niemals ein Essen, jetzt aber schmeckte ihm die gereichte Suppe gar nicht. Er starrte auf den Teller nieder, und Träne auf Träne tropfte aus seinen Augen. Wo war das Pommerle? Lag es vielleicht todesmatt im Knieholz? Rief es nach ihm?
Jule malte sich die schrecklichsten Bilder aus. vielleicht war das Pommerle gar tot, irgendwo abgestürzt, vielleicht war es auch immer weiter gelaufen und schließlich krank zusammengebrochen.
Der Abend war auch nicht mehr fern, und wenn es zu dunkeln begann, kamen die Gebirgsgeister hervor, vor denen sich sogar Jule fürchtete.
Er würgte an der Suppe, als ob er hartes Fleisch zu essen habe, und zwischendurch schickte er Stoßgebete zum lieben Gott und zu Rübezahl, daß beide dem kleinen Pommerle beiständen.
»Ich will auch den Taler gar nicht haben,« murmelte Jule, »will ihm meine zwei Mark noch dazugeben, will niemals wieder davonlaufen und auch keine Scheiben mehr einwerfen. Nur das Pommerle will ich wiederfinden.«
Er hatte die Suppe endlich aufgegessen und erhob sich, um davonzueilen.
»Hier habe ich dir ein Fläschchen mit Wein zurechtgemacht, Junge,« sagte der Baudenwirt. »Wenn du die Kleine findest, gib ihr davon zu trinken, und dann kommt ihr sofort hierher zurück.«
Jule vergaß in seiner Aufregung das Danken, nahm den Wein, drückte sich die Mütze fest auf das Haar und eilte davon. Kopfschüttelnd schaute ihm der Wirt nach.
»Wenn nur dem kleinen Mädchen nichts passiert ist. Wo soll man es hier wiederfinden!«
Er besprach das alles mit den auf der Koppe weilenden Touristen, die noch teilweise weitergehen wollten. Alle wollten sich umsehen und auch nach dem Kinde rufen.
Jule zögerte. Welchen Weg sollte er nehmen? Den steilen, kurzen Pfad hinab über die Leischnerbaude nach Aupa oder den deutlicher sichtbaren über den Riesenkamm hin zur Schwarzen Koppe?
Er hob zwei Steine vom Boden auf. »Rübezahl, zeige mir den Weg. Wo ist Pommerle gegangen? Der weiße Stein ist das Pommerle.« Damit warf er beide Steine hoch in die Luft. Der weiße fiel ein wenig mehr nach links hinüber.
»Also nach der Schwarzen Koppe,« sagte der Knabe. Dann lief er los.
Seine Sorge wurde immer größer. Wenn die Kleine diesen Weg eingeschlagen hatte, mußte sie stundenlang wandern, ehe sie zu einer menschlichen Wohnung kam. Ob Pommerle solche Strapazen aber aushielt? Würde sie sich nicht schrecklich fürchten? Am Ende starb sie vor Angst. Jule wußte sehr genau, wie einem zumute ist, wenn das Gruseln kommt. Noch war heller Tag, aber wie lange, dann kamen die Abendschatten und damit alle die unheimlichen Gestalten.
»Pommerle – – Pommerle – – Hanne – – Hanne!« Ununterbrochen ertönten die Rufe des dahineilenden Knaben. Aber keine Antwort kam zurück. Von Zeit zu Zeit setzte sich Jule in Trab, dann wieder hielt er im Laufen inne, um erneut nach dem Kinde zu rufen.
Es begann zu dunkeln, als er den Gipfel der Schwarzen Koppe erreicht hatte. Die Angst um das Kind, aber auch die Angst vor der Einsamkeit ließen Jule erzittern. Gerade hier auf der Schwarzen Koppe war es für ihn so unheimlich. Hier gingen Rübezahls Geister gewiß um, und da Rübezahl wußte, daß Jule heute sehr unrecht gehandelt hatte, würde er seinen Berggeistern befehlen, ihn zu bestrafen. Er hatte gehört, daß die Berggeister mit Tannenruten auf die Unartigen einschlugen, und das tat nicht gerade gut.
Horch! Knackte es jetzt nicht dicht hinter ihm?
»Ich will's nicht wieder tun,« rief Jule, duckte sich zusammen und hielt beide Hände schützend aus den Hosenboden.
Aber alles blieb totenstill. Endlich wagte der Knabe, scheu sich umzublicken. Niemand war weit und breit zu sehen.
Da lief er weiter wie gehetzt und machte erst halt, als er an einem Wegweiser stand. Hier ging es hinab nach Wolfshau, aber geradeaus führte der Weg nach den Grenzbauden. Welchen Weg war wohl das Pommerle gegangen?
Wieder nahm Jule zwei Steine und warf sie in die Luft. Der hellere wies nach den Grenzbauden.
Er war todmüde. Er verspürte jetzt auch brennenden Durst. Die Hand zuckte mehrfach nach der Flasche mit dem Wein, die er in der Hosentasche stecken hatte. Aber er bezwang sich.
»Nein, das ist fürs Pommerle,« sagte er fest. Aber trotzdem nahm er die Flasche heraus, entkorkte sie, roch daran und bildete sich ein, daß er nun wieder gestärkt sei. Riechen konnte er an dem Wein, das hatte ihm der Baudenwirt nicht verboten.
So wanderte er weiter, die Flasche unter der Nase. Da – Jule hatte die große Wurzel nicht gesehen – pardauz, lag er auf der Nase, fühlte einen stechenden Schmerz im Gesicht, merkte, daß ihm etwas Nasses, warmes über den Hals hinunterrieselte, und als er sich wieder aufrichtete, lag die Flasche mit dem kostbaren Wein zertrümmert vor ihm.
Im ersten Augenblick war der Knabe starr vor Entsetzen. Dann ballte sich seine Hand zur Faust.
»Das war Rübezahl! Das war der niederträchtige, abscheuliche – –« Jule hielt entsetzt im Weiterreden inne und schlug sich mit der flachen Hand auf den Mund. Nein, das hatte er nicht gewollt. Wie durfte man wagen, im Riesengebirge und noch dazu, wenn man mutterseelenallein war, auf den mächtigen Berggeist zu schimpfen. Es lief