vor der Kleinen tauchte jetzt ein zweiter Berg auf. Pommerle blieb stehen. Dann rief es angstvoll nach Jule.
Immer lauter und ängstlicher wurde sein Rufen. Das Kind eilte hin und her, das kleine Herz klopfte vor Angst. Dabei begann es langsam zu dämmern, und noch immer hatte das verirrte Kind das ersehnte Haus nicht gefunden.
Das kleine Mädchen begann zu weinen, lief aber trotzdem angstvoll weiter, immer noch hoffend, dem Jule zu begegnen.
Allmählich bemächtigte sich des umherirrenden Kindes große Müdigkeit. Die kleinen Füße wurden schwerer und immer schwerer, und schluchzend setzte es sich endlich auf einen Stein nieder, lauter denn je nach Jule rufend.
Als aber niemand kam, trieb die Angst das Kind weiter vorwärts. Ob es zurückging zu dem Hause mit den bösen Menschen oben auf dem Berggipfel? Das Kind schauderte zusammen. Nein, dort oben war jetzt sicherlich schon die Polizei angekommen. – War denn niemand hier, der ihm half?
Pommerle bereute es jetzt, mit Jule so weit fortgegangen zu sein. Es rief nach Onkel und Tante, aber das Stimmchen verhallte ungehört.
Die Angst trieb der Kleinen dicke Schweißtropfen auf die Stirn. Wenn es ganz dunkel wurde, kamen vielleicht böse Tiere und taten ihm ein Leid an. Wo wollte es schlafen? Es konnte doch nicht die ganze Nacht hier, auf dem Steine sitzend, zubringen.
Pommerle hüllte sich fester in sein Mäntelchen ein. Eben war ihm noch heiß gewesen, jetzt fror es jämmerlich. Dabei zitterten ihm die Füße, daß es sich erneut niedersetzen mußte.
»Lieber Gott,« rief es weinend, »bring mir den Onkel und die Tante oder den Jule her, ich will auch immer artig sein! Laß mich das Haus mit den guten Leuten finden!«
Angstvoll wartete die Kleine, aber als sich auch jetzt nichts regte, sprach sie mit frommem Herzen ein Vaterunser, in der Hoffnung, daß ihr dadurch Hilfe werde.
Mitten im Gebet hielt sie plötzlich inne. Hatte der Jule nicht gesagt, daß in diesen Bergen Rübezahl wohne, und daß Rübezahl noch viel mehr könne als der liebe Gott? Der könnte Steine in Gold verwandeln, konnte mit seinem Mantel durch die Luft fliegen. Er half allen guten Menschen.
»Rübezahl!« rief Pommerle kleinlaut.
Wenn Rübezahl allen guten Menschen half, kam er sicherlich nicht zu ihr. Pommerle wußte sehr genau, daß es nicht hätte so weit von den Pflegeeltern fortlaufen dürfen. Was würden Onkel und Tante sagen, wie würden sie sich ängstigen.
»Rübezahl – Rübezahl – sei mir nicht böse, ich will es auch nicht wieder tun. Ich wollte ja nur die See sehen, darum bin ich auf den hohen Berg gestiegen. – Komm, Rübezahl, und trage mich nach Hause!«
Der Abendwind fuhr durch das niedere Gehölz, Pommerle horchte erschreckt auf. War das der Berggeist, der dahergebraust kam? Es zitterte vor Angst, und doch wartete es sehnsüchtig darauf, daß ihm Rübezahl zu Hilfe käme.
»Rübezahl!« Immer jämmerlicher klang das Rufen des verängstigten Kindes, immer heftiger klopfte das kleine Herz, immer verzagter wurde ihm zumute. Jetzt war es, als tauchten aus dem niederen Gehölz die verschiedensten Gestalten auf. Entsetzt sprang das kleine Mädchen auf, schrie laut, eilte davon, stürzte über Wurzeln, erhob sich zitternd und eilte wie gejagt weiter, immerfort von Entsetzen gepeinigt rufend:
»Rübezahl – Rübezahl!«
Ihm war es plötzlich, als versage ihm der Atem. Es keuchte nach Luft. Was war das für ein schwarzer, böser Mann, der sich dort aus dem Gehölz erhob? Mit einem Schrei fiel Pommerle zurück, drückte beide Hände fest vor die Augen und wartete darauf, daß der böse Mann über das verängstigte Kind herfallen werde.
Es war niemand zu sehen. Der Wind hatte einen verkrüppelten Ast emporgehoben, und in der Dämmerung hatte das verängstigte Mädchen geglaubt, einen Menschen zu sehen.
Eine ganze Weile lag Pommerle still auf dem steinigen Boden, dann versuchte es erneut vorwärts zu eilen, aber die Erregung hatte ihm die Kräfte genommen, völlig erschöpft sank das Kind am Wege nieder; nochmals kam ein Ruf an Rübezahl über die zitternden Lippen, dann schlossen sich die blauen Augen.
Von der schwarzen Koppe her kam eiligen Schrittes ein Herr. Er wollte noch heute hinab nach den Koppenhäusern, um dort zu übernachten. Der Maler Paeschke hatte sich ein wenig verspätet, da er aber die schlesischen Berge gut kannte, wußte er genau Bescheid und war ohne Sorgen, obwohl die Sonne bereits untergegangen war. Eine lange Pelerine schützte ihn vor der abendlichen Kälte. Den großen graugrünen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, mit dem derben Gebirgsstocke wanderte er, ein Liedlein pfeifend, fröhlich des Weges.
Maler Paeschke war ein großer Künstler, der schon viele schöne Bilder hergestellt hatte. Er war auf seinen Reisen bis nach Amerika und Asien gekommen, aber immer wieder zog es ihn zurück nach Deutschland und in seine schlesische Heimat. So hatte er auch in diesem Jahre die Maitage dazu benutzt, um wieder einmal die schlesischen Berge zu durchstreifen. Er war etwa fünfzig Jahre alt, groß und schlank, sein blonder Vollbart hing ihm bis auf die Brust herab.
Der Wanderer mußte jetzt gut auf den Weg achten, denn Gestein und Wurzeln machten sich hier unangenehm bemerkbar. Mitunter stolperte er sogar ein wenig, aber das tat seiner fröhlichen Laune nicht den geringsten Abbruch.
Plötzlich blieb er stehen. Was lag denn dort unter dem Gebüsch? War das nicht ein Kind? Ein Mädchen in buntem Röckchen, mit einem Mäntelchen bekleidet.
Paeschke schritt näher. Richtig, da lag ein Kind von etwa acht Jahren, mit geschlossenen Augen, vollkommen regungslos.
Wie kam das kleine Ding jetzt in der Abendstunde in diese Einöde?
»He, holla!«
Das Kind rührte sich nicht.
Sofort kniete der Maler nieder, nahm den Kopf des völlig erschöpften Mädchens auf seinen Schoß und rüttelte die Kleine ein wenig.
»Holla, Kleine!«
Langsam schlug Pommerle die Augen auf. Im ersten Augenblicke konnte es sich nicht zurechtfinden.
»Nun sage mal, kleines Mädchen, was machst du denn hier mitten im Gebirge. Bist du krank?«
Nur zu rasch kam Pommerle die Erinnerung an die letzten furchtbaren Stunden. Erschreckt wollte es aufspringen, da fiel sein Blick auf den langen Bart des Mannes, auf den großen graugrünen Hut.
»Rübezahl,« sagte Pommerle leise und schaute mit glücklichen Augen den Mann an, der jetzt seine Flasche hervorzog.
»Nun trinke mal erst ein wenig, Kleine, und dann erzähle mir, wie du so mutterseelenallein hierher kommst.«
»Lieber, guter Rübezahl, bring mich wieder heim.«
»Das will ich schon machen, Kleine, nur sage mir, wo du hingehörst? – Bist du denn ganz allein hier in den Bergen?«
»Nicht wahr, du holst nicht die Polizei?«
»Warum sollte ich denn die Polizei holen? Wo sind denn deine Eltern?«
Der Gedanke an den Vater trieb Pommerle die Tränen in die Augen; dazu kam die furchtbare Aufregung, die es durchgemacht hatte, und so begann die Kleine herzzerbrechend zu weinen.
Paeschke nahm den Blondkopf der Kleinen und drückte ihn an seine Brust.
»Mußt nicht weinen, Rübezahl ist jetzt bei dir und hilft dir.«
»Du guter, lieber Rübezahl, ich habe ja so toll nach dir gerufen.«
»Wie kommst du aber hierher, kleines Mädchen? Jetzt mußt du dem Rübezahl die volle Wahrheit sagen? Er weiß alles, nur will er sehen, ob du ein braves Kind bist. Wenn du mir jetzt alles ganz aufrichtig erzählst, bringe ich dich wieder nach Hause.«
»An die See?« In den wenigen Worten lag helles Jauchzen.
»Kommst du denn von der See?«
»Ich bin doch das Pommerle!«
»Richtig ja, du bist ja das Pommerle,« sagte der Maler,