vorbei, um endlich Umschau zu halten.
All' die Schönheiten, die sich vor den Augen der Kleinen ausbreiteten, das weite Hirschberger Tal, die ungezählten Berggipfel zu seinen Füßen machten keinen Eindruck auf das Kind; es suchte mit weit geöffneten Augen nach dem Meere. Immer erregter lief es hierhin und dorthin, und immer angstvoller klomm in dem kleinen Herzen die Frage auf: wo liegt die See?
Ueberall das gleiche Bild, vielleicht waren die kleinen Ortschaften dort weit hinten schon Pommern. Aber das Meer war nirgends sichtbar.
Pommerle merkte es nicht, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen, Tränen bitterster Enttäuschung. Es suchte noch immer nach der heißgeliebten See, die es von hier oben zu sehen gehofft hatte, die aber selbst hier, auf dem höchsten Berge, noch immer nicht sichtbar war.
Diese Enttäuschung war zu groß für Pommerle. Es rief mit lauter flehender Stimme nach Jule, und als keine Antwort kam, ließ sich das ermüdete Kind auf einen Stein nieder, schlug die Händchen vor das Gesicht und weinte herzbrechend.
Man hatte das kleine Mädchen, das so erregt hin und her eilte, bald bemerkt, hatte aber geglaubt, daß es zu den angekommenen Touristen gehöre. Da das aber nicht der Fall zu sein schien, begab sich einer der in der Baude Angestellten hinaus zu dem weinenden Kinde.
»Wo kommst du denn her, Kleine?«
Pommerles Jammer war so grenzenlos, daß es die Frage überhörte. Erst als der Mann das Kind ein wenig aufrichtete und nochmals freundlich fragte, wurde ihm klar, daß es gänzlich allein war.
All' die heiße Sehnsucht drängte sich jetzt nochmals in die einzige Frage zusammen: »Wo ist die See?«
»Was denn für eine See, kleines Mädchen?«
»Die Ostsee,« schluchzte Pommerle.
»Warum willst du denn gerade die Ostsee sehen, Kleine? Die kannst du von hier aus nicht erblicken.«
»Wo ist denn Pommern?«
»Weit fort von hier. Wir sind hier in Schlesien.«
Neues Schluchzen kam aus der Brust der Kleinen.
»Kann man denn niemals die See von hier sehen?«
»Kommst du aus Pommern?«
»Ja.«
»Wie kommst du denn so ganz allein hier herauf?«
Es war anfangs nicht viel aus dem weinenden Kind herauszubekommen. Es konnte ja nicht daran glauben, daß dieser mühevolle Aufstieg vergeblich gewesen sei, und daß man von dem höchsten Berge nicht die Ostsee sah. Immer wieder schluchzte das kleine Ding weh auf.
»Komm mal mit hinein, ich gebe dir ein Stück Schokolade, und dann wirst du uns erzählen, woher du kommst.«
Bald war Pommerle von neugierigen Fragern umringt. Allerlei Vermutungen wurden ausgetauscht, denn noch immer sah man nicht klar, auf welche Weise dieses pommersche Strandkind allein auf die Koppe gekommen war. Aber endlich erfuhr man doch, daß Pommerle mit seinen Pflegeeltern ins Gebirge gekommen war und daß man in einem schönen Hotel unten im Tale wohne. Den Namen des Ortes konnte die Kleine freilich nicht nennen, wohl aber wußte sie, daß man in Hirschberg lebe und daß Professor Bender sein Pflegevater sei.
Eine der anwesenden Touristinnen begann jetzt heftig auf das kleine Mädchen zu schelten.
»Schämst du dich denn nicht, ohne Wissen den Pflegeeltern davonzulaufen? Bist ja ein nettes Früchtchen. Warte nur, wenn dich die Grenzjäger gesehen hätten. Mit solchen kleinen Ausreißern macht man in Schlesien sein Federlesen. Du mußt doch wissen, wohin du gehörst.«
Pommerle war blaß vor Schreck geworden, so harte Worte hatte es noch niemals gehört.
»Wenn du jetzt nicht gleich sagst, woher du gekommen bist, benachrichtigen wir die Polizei, die wird dich dann zum Reden bringen.«
»Ich wollte doch nur die See sehen,« schluchzte das Kind. »Ich bin immer weiter hinaufgestiegen. Es waren lauter Steine, und zuletzt war alles Wald.«
»Wie heißt denn der Ort, aus dem du kommst?«
»Ich weiß es nicht,« weinte das Mädchen.
»Das glaubt dir doch niemand. Weggelaufen ist das Ding! Am besten wäre es, wir telephonieren zur Polizei und melden, daß hier ein Mädchen zugelaufen ist. Die Pflegeeltern werden in größter Sorge sein und angstvoll die kleine Unart suchen.«
Pommerle wurde glühendheiß vor innerer Angst. Die Polizei! Deutlich stand ein schreckliches Bild vor seiner Seele. Am Strande war es gewesen. Da hatten zwei Polizisten einen fremden Mann gepackt; der wehrte sich heftig, aber die beiden Polizisten stießen den Aermsten unsanft vor sich her. So würde es ihr gewiß auch ergehen. Nein, dann wollte es lieber rasch den Weg abwärts eilen, den es hinaufgegangen war, um wieder zu jenen guten Leuten zurückzukommen, die ihr Milch und Brötchen gereicht hatten. Dort war man freundlich und gut zu ihr gewesen und hatte nichts von der Polizei gesagt, vielleicht war auch der Jule dort und wartete auf sie.
Scheu schaute Pommerle zur Tür. Fürs erste war es freilich unmöglich, das Zimmer zu verlassen, gar zu viele Neugierige standen um das kleine Mädchen herum. Aber vielleicht fand sich doch eine gute Gelegenheit, davonzulaufen. Immer wieder vernahm Pommerle die Stimme jener Dame, die von der Polizei sprach. Und jetzt meinte sogar der Baudenwirt, daß es das Beste sei, die Polizei zu benachrichtigen.
Das kleine Herz Pommerles klopfte wie ein Hammer. Nur fort von hier, fort, ehe es von dem Polizisten abgeholt wurde. Man gab ihm zu essen und zu trinken, aber die Kleine war viel zu erregt und brachte keinen Bissen herunter.
»Das Richtigste wird es sein,« sagte einer der Touristen, »wir nehmen die Kleine zum Schlesierhaus hinab, von dort aus können weitere Ermittlungen angestellt werden.«
»Bist du sehr müde, Kleine, oder kannst du noch etwas laufen?« fragte einer der Herren.
»Ich bin nicht müde,« kam es zitternd von den blassen Kinderlippen.
»So nehmen wir die Kleine mit hinunter ins Schlesierhaus. Der Baudenwirt kann dann alles weitere veranlassen.«
In einer halben Stunde sollte aufgebrochen werden. Pommerle malte sich die entsetzlichsten Bilder aus. Dort unten in dem Hause wartete sicherlich schon die Polizei, die es mitnahm. Aber es wollte nicht mit der Polizei gehen, es mußte doch zurück zu seinen Pflegeeltern. Den Weg wollte es schon finden. Er führte ja jetzt nur immer abwärts, und man konnte gewiß nicht fehlgehen.
Es gelang dem kleinen Mädchen tatsächlich, unbemerkt die Baude zu verlassen. Da man glaubte, daß sich die Kleine damit abgefunden habe, in Begleitung der beiden Touristen hinabzusteigen, achteten die anderen nicht weiter auf das Kind, und so entstand in Pommerle der verzweifelte Entschluß, ganz allein, wie es gekommen, den Weg wieder zurückzulegen. Ganz gewiß kam ihm dann Jule entgegen, der ja auch auf den hohen Berg wollte.
Zunächst verbarg sich Pommerle hinter einer der Bauden. Es ahnte ja nicht, daß von der Schneekoppe die verschiedensten Wege abwärts führten. Fast alle waren im gleichen Zickzack angelegt, und so war es wohl verständlich, daß es glaubte, in dem Wege, den es jetzt vor sich sah, den rechten wiederzufinden. Da im Augenblick niemand auf das kleine Mädchen achtete, hielt es das Kind für ratsam, den Rückweg anzutreten, um der vielleicht schon gerufenen Polizei zu entgehen.
Pommerle begann zu laufen. Bergab ging es wunderbar schön, jetzt würde es von keinem der Menschen dort oben mehr eingeholt werden. Es lief und lief, bis es schließlich atemlos halt machte. Weit und breit kein Mensch. Nun würde bald das Haus auftauchen, in dem die guten Leute wohnten, und dort würde auch Jule sein.
Aber das Haus war nirgends zu sehen, hätte Pommerle geahnt, daß es gerade auf der entgegengesetzten Seite der Schneekoppe hinabstieg und daß es das Schlesierhaus hier niemals finden würde, wäre ihm wohl doch Angst geworden. Aber noch lebte es in der Hoffnung, die Baude zu finden.
Pommerle wanderte weiter. Es ging jetzt nicht mehr bergab, sondern ziemlich eben fort. Aber je weiter es lief, um so ängstlicher wurde ihm zumute.