rief er fast weinerlich, »du weißt doch, wie gerne ich dich habe. – Nee, du bist nicht abscheulich, du bist ein großer, guter Berggeist, aber hilf mir jetzt das Pommerle wiederfinden.«
Wieder knackte es ganz in seiner Nähe. Jule machte einen Sprung seitwärts und schaute entsetzt auf die Stelle, an der es seiner Meinung nach geisterte. Und dann kam plötzlich etwas herausgesprungen. Der Knabe schrie gellend auf. Das konnte nur der mächtige Berggeist sein, der auf ihn zuwollte, um ihn zu strafen. Jule sank zusammen.
»Gnade, Gnade!« schrie er. Aber da setzte auch schon ein Rehbock in langen Sätzen an ihm vorüber. Jule atmete ordentlich erleichtert auf. Diesmal war es noch gut abgegangen, aber wer weiß, hinter welchem Felsblock Rübezahl auf ihn lauerte.
Weiter, jetzt nur rasch weiter! Mit dem Jackenärmel wischte er sich das Blut vom Gesicht, denn die Scherben der Flasche hatten ihm Wange und Nase gehörig zerkratzt.
Es wurde dunkler und immer dunkler. Jule bereute es tief, daß er so wenig Gebete wußte. Aber der liebe Gott würde gewiß nicht böse sein, wenn er ihm auch Verse aus dem Lesebuchs aufsagte, die ihm noch im Gedächtnisse waren. Und während er mit ängstlichen Blicken nach rechts und links schaute, murmelte er vor sich hin:
»Der Mai ist gekommen – – gekommen – –.« Aber Jule, der niemals viel in der Schule gelernt hatte, wußte nicht weiter und grübelte schier krampfhaft nach einem neuen Verse, um die immer größer werdende Furcht zu bannen. Rings um ihn her die prachtvollen Tannen. Das brachte ihn auf eine neue Idee, und nun sprach er und sang zuweilen auch:
»O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter, du grünst nicht nur zur Sommerszeit, lieber Gott, laß mich das Pommerle finden, auch wenn es schneit, – o Tannenbaum, o Rübezahl, du kannst mir sehr gefallen!«
In dem dichten Hochwald rauschte der Abendwind. Mit erschreckten Augen schaute der Knabe empor, und dann schrie er hinauf zu den Gipfeln der Tannen: »Denkt ihr etwa, ich fürchte mich? Nein, ich fürchte mich gar nicht!« Darauf sang er mit voller Lungenkraft, zwar sehr falsch, aber doch anhaltend: »Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all – –«
Der Gesang hatte ihm Mut gemacht. Er bildete sich fest ein, daß er in den Grenzbauden, die gar nicht mehr weit waren, das Pommerle finden würde. Jetzt trat er aus dem Walde und sah die erste Baude vor sich liegen.
»Pommerle, Pommerle, endlich habe ich dich gefunden! Aber warte nur, wie kannst du mir so davonlaufen!«
Ohne Gruß betrat er das Haus. »Wo ist das Pommerle? Hier ist doch ein kleines Mädchen? Das ist das Pommerle und gehört zu mir.«
»Nanu, Junge, wo kommst du denn zu so später Abendstunde noch her?«
»Hat das Pommerle schon Abendessen bekommen?«
»Was ist denn das für ein Pommerle?«
»Wir sind zusammen von Krummhübel fortgegangen, dann haben wir uns verloren. – Wo ist sie denn?«
»Hier ist kein Pommerle angekommen.«
Jule starrte den Sprecher an, und plötzlich schlugen ihm die Zähne zusammen. Dann rief er angstvoll: »Das Pommerle – lieber Gott, das Pommerle muß doch hier sein!«
»Vielleicht drüben in einer der anderen Bauden.«
Der Knabe hielt sich nicht erst lange auf. Da die nächste Baude nur wenige Minuten entfernt war, fragte er dort nach. Aber hier wurde ihm der gleiche Bescheid, daß man von einem kleinen Mädchen nichts gesehen habe.
Der Knabe zitterte vor Erregung, ging aber noch zur dritten Baude hinüber, um auch hier zu hören, daß ein kleines Kind nicht angekommen sei.
»Pommerle!« Es war ein jammervoller Ruf, der aus dem Munde Jules kam.
»Soll das kleine Mädchen, das du suchst, allein gekommen sein? Es geht doch kein Kind ohne Begleitung übers Gebirge!«
Um Jules Fassung war es geschehen. Der große Knabe warf sich vor der Baude auf die Erde, barg das Gesicht in den Armen und schluchzte jämmerlich.
»Pommerle, mein Pommerle, – wo ist denn mein Pommerle?« Er wollte sich nicht beruhigen lassen. Er fieberte vor Erschöpfung, ließ sich willenlos ein Glas Milch an die Lippen setzen, trank es gierig leer und sank erneut völlig erschöpft zurück.
»Ich muß weiter,« murmelte er mit geschlossenen Augen, »ich muß doch das Pommerle finden.«
»Wo willst du denn jetzt hin, Junge?«
»Zum Pommerle!« Unter heftigem Schluchzen kamen die beiden Worte über die Lippen des Knaben.
»Nichts da,« entschied energisch der Wirt. »Du bleibst die Nacht hier, schläfst dich erst mal aus, und morgen erzählst du uns, wo du die Kleine verloren hast.«
Jule wollte sich nicht zurückhalten lassen. Er schlug mit Händen und Füßen um sich und schrie erregt nach Pommerle, bis schließlich die Baudenwirtin herbeikam und freundliche und besänftigende Worte an den Knaben richtete.
»Du mußt doch einsehen, Kind, daß man des Nachts niemanden finden kann. Das Pommerle hat unterwegs gewiß jemanden getroffen, man hat es mitgenommen, und es schläft schon lange. Paß auf, morgen hast du das Pommerle wieder.«
Als Jule auf die Matratze sank, machte sich der weite Marsch doch bemerkbar. Es dauerte nur noch wenige Minuten, da lag er in tiefem Schlummer.
In der Nacht freilich hatte er die gräßlichsten Träume. Rübezahl erschien und warf ihn von der Schneekoppe hinab in den Riesengrund. Jule fühlte ordentlich den harten Fall. Er erwachte. Anfangs wußte er nicht, wo er eigentlich war. Die eine Seite tat ihm furchtbar weh. In der Dunkelheit tastete er um sich. Da merkte er, daß er von der Matratze heruntergerutscht war und auf der blanken Diele lag. Erneut kroch er auf sein hartes Lager, um wieder in unruhigen Schlummer zu sinken. Alle Tannen, die er heute gesehen hatte, verwandelten sich jetzt in Geister, die mit langen Armen nach ihm griffen. Und der eine hatte die Weinflasche in der Hand und übergoß Jule mit der duftenden Flüssigkeit.
Der Knabe erwachte, schrie auf, sein Gesicht war naß. Auch von der Jacke tropfte es. Was war geschehen? Jule hatte so lebhaft geträumt, daß er sich erneut von der Matratze heruntergewälzt hatte, bis hin zu dem Waschkruge, der ein wenig von seinem Lager entfernt stand. Energisch hatte er im Schlafe um sich geschlagen, um die bösen Geister von sich abzuwehren, der kalte nasse Inhalt des Kruges hatte sich über ihn ergossen.
Das machte den Knaben munter. Er schüttelte sich, daß die Tropfen flogen, dann schaute er durch das kleine Fenster. Draußen graute der Morgen. In der Baude aber war alles noch still. Seine Glieder schmerzten ihn von der Wanderung des vergangenen Tages, als er dann aber an Pommerle dachte, das er noch immer nicht gefunden hatte, waren alle Schmerzen wie fortgeblasen.
»Ich muß es doch suchen gehen,« flüsterte der Knabe angstvoll, »es hat sich verlaufen, sitzt weinend im Walde und ist vielleicht vor Angst und Schreck gestorben!«
Leise schlich er sich die Treppe hinab. Die Haustür war noch fest verschlossen. Der Schlüssel war nirgends zu finden. Aber Jule wollte nicht länger hier bleiben, er mußte nach Pommerle suchen. Behutsam öffnete er das Flurfenster, schwang sich aufs Fensterbrett, ein zweiter Satz brachte ihn in die freie Natur.
Wohin jetzt? Ueber die Grenzbauden hinaus war Pommerle sicherlich nicht gekommen. Es mußte einen anderen Weg genommen haben. Ob es von der Schneekoppe vielleicht nach einen ganz anderen Richtung gegangen, ob es vielleicht überhaupt nicht weitergelaufen und gleich nach Krummhübel zurückgekehrt war? Aber dann hätte es ihm begegnen müssen. Oder ob das Pommerle vom Schlesierhaus aus mit fremden Leuten zurückgefahren war? Vielleicht hatten sich Fremde der Kleinen angenommen.
Jule beschloß wieder sein Steinorakel zu befragen. Er suchte sich einen abgeplatteten Stein, der auf einer Seite schön gezeichnet war. Wenn die Zeichnung beim Emporwerfen des Steines nach oben zu liegen kam, war Pommerle zurück nach Krummhübel gekommen. Jule warf den Stein empor. – Richtig! Die schön geäderte Steinfläche blieb oben.
Da riß der Knabe die Mütze vom Kopfe, schleuderte