Pommerle, hast du dich wieder beruhigt? Bist du jetzt wieder artig? Sollte es mit der Hörnerschlittenfahrt nichts mehr werden, sollte es weiter so stark tauen, so hat dein Vater noch eine andere Freude für dich in Aussicht.«
Pommerle verzog die Lippen. »Was denn?«
»Vati und Mutti fahren zu Ostern, das sind nur noch fünf Wochen, nach Breslau. Dann nehmen wir dich mit. Ist das nicht schön?«
»Fahrt ihr auch, wenn wieder Besuch kommt?«
»Ja, mein Kind, auch dann. Der Vater hat dort einen Kongreß, den will er besuchen.«
»Na, wollen mal sehen. Also zu Ostern.«
Pommerle rechnete aus, daß es doch bis zu Ostern noch ziemlich lange sei. Da lagen noch fünf Sonntage dazwischen. Das Kind nahm sich vor, die Eltern öfters einmal an die Breslauer Reise zu erinnern, daß sie nicht in Vergessenheit gerate. Zunächst erhoffte es aber, daß neuer Schnee fiele, daß man am nächsten Sonntag doch noch Hörnerschlitten fahren konnte.
Im Hause von Professor Bender herrschte am heutigen Sonntag ziemliche Erregung. Es war etwas ganz Seltenes, daß der berühmte Geheimrat Professor Doktor Unolt die Wohnung eines Gelehrten aufsuchte. Bisher war diese Auszeichnung nur einem einzigen Herrn in München zuteil geworden.
Frau Bender war sehr stolz darauf, den Geheimrat als Gast in ihrem Haus begrüßen zu können, und auch Professor Bender fühlte sich hochgeehrt.
So kam es, daß man am Sonntag vormittag Pommerle allein ließ, daß es auch keinem auffiel, als sich das Kind gegen elf Uhr entfernte. Pommerle ging ja öfters zu Freundinnen oder zur Eisbahn; Frau Bender hatte dem Kinde nur freundlich zugenickt, als es fragte, ob es ein bißchen fortgehen dürfe.
Im selben Augenblick ertönte von der Straße her Jules schriller Pfiff. Pommerle eilte hinaus und bewunderte den prachtvollen neuen Rodelschlitten.
»Wann hast du denn den gemacht?«
Jule sah sich verlegen um. »Die größere Hälfte in meiner Freizeit. Aber zum Schluß habe ich etwas gemogelt. Na, ich denke, es wird nichts schaden.«
»Der Meister hat dich aber gelobt. Ach, Jule, wenn der alte Unhold nicht gekommen wäre, wären wir jetzt in Schreiberhau.«
»Wegen so eines Kologen kommen wir um unser schönes Vergnügen.«
Während der Wanderung hinaus zum Rodeln wurde nur von der vereitelten Partie gesprochen. Pommerle erzählte, daß es zu Ostern nach Breslau fahren solle. Es habe sich aber viel mehr auf die Hörnerschlittenfahrt gefreut.
»Brauchst dich auf Breslau gar nicht erst zu freuen; du kommst ja doch nicht hin. Es kommt bestimmt wieder Besuch. Ich kenne das. Aber dafür rodeln wir heute wie die Verrückten!«
»Ja«, sagte das Kind, »je toller, desto besser.«
Jeder Hang, der sich zum Rodeln eignete, wurde kritisch betrachtet. Heute erschien den beiden nichts steil genug. Immer wieder meinte der Jule: »Ich hab' 'ne Wut in mir, die muß erst wieder 'raus!«
»Ich hab' auch 'ne Wut in mir«, meinte Pommerle.
Sie wanderten weiter. Plötzlich wies Jule auf einen ziemlich steilen Hang.
»Das wäre fein!«
»Na, da werden wir wohl kopfüber gehen.«
»Pah, du Feigling! Auf dem Schlitten geschieht uns nichts! Ich lenke ja auch.«
»Ein bißchen steil ist es ja, und viele Bäume stehen auch hier.«
»Dann fahre ich eben allein.«
Schon stieg der Jule den Hang hinan. Das kleine Mädchen kam zögernd nach.
Kurz darauf sauste der Jule mit dem Schlitten, eine fabelhafte Geschicklichkeit im Lenken zeigend, an Pommerle vorüber.
»Wenn ich hundertmal heruntergerodelt bin, ist es mit meiner Wut wieder besser. Willst du nun aufsitzen?«
Jubelnd wurde die gefährliche Rodelbahn benutzt.
»Im Hörnerschlitten wäre es ja noch schöner«, meinte das kleine Mädchen. Aber schließlich mußte es doch zufrieden sein. In diesem Augenblick wäre der Schlitten beinahe an einen Baum gefahren. Doch gerade das bereitete dem Jule ungeheures Vergnügen.
»Ich bin aber erschrocken«, meinte Pommerle.
Das war dem übermütigen Jule gerade recht. Er konnte sich auf seine Lenkkünste verlassen. Beim nächsten Male wollte er noch einmal, ganz genau so dicht an der Tanne vorüberfahren.
»Aufgesessen!« kommandierte er. »Die Hörnerschlittenfahrt geht los!«
»Los!« klang es hinter seinem Rücken.
Und dann geschah das Unglück. Jule hatte die Gewalt über den sausenden Schlitten verloren, er fuhr mit aller Wucht an einen Baum, Jule empfand einen schmerzenden Schlag gegen den Kopf, der ihm für die nächsten Sekunden die klare Besinnung nahm. Es klang aber, als ob jemand neben ihm furchtbar aufschrie.
Als er wieder zu sich kam, lief ihm etwas Warmes über das Gesicht. Er wischte es fort. Seine Hand war voller Blut.
»Pommerle!«
Ein Stöhnen drang zu ihm herüber. Der Jule richtete sich auf. Etwa zehn Schritte von Jule entfernt lag Pommerle im Schnee. Es sah totenblaß im Gesichtchen aus. Die Kleine blutete auch. Die Trümmer des Schlittens waren weit im Umkreise verstreut.
»Ich kann nicht aufstehen. Oh, es tut so furchtbar weh!«
Nochmals wischte sich der Jule das rinnende Blut von der Stirn, dann ging er zu Pommerle, um ihm zu helfen.
»Mein Fuß!« schrie das Kind qualvoll.
»Du mußt aufstehen«, meinte der Jule. »Beiße fest die Zähne zusammen.«
Er versuchte, abermals zu helfen; doch wieder sank das Kind aufschreiend zurück in den Schnee.
»Hast du ihn vielleicht gebrochen?«
»Ich glaube, ich habe alles gebrochen«, weinte das Kind. »Ach, mein Fuß!«
»Im Gesicht hast du auch eine große Schramme.«
Jule wischte der Weinenden das Blut ab.
»Ach, es tut so weh! – Ach, mein Fuß! Und hier in der Seite sticht es. – Ich will heim!«
»Versuch doch noch mal zu laufen – nur auf einem Fuße. Ich helfe dir.«
Es gelang dem Jule, das Pommerle aufzurichten, obwohl das Kind dabei furchtbar stöhnte. Doch nach dem ersten Hüpfen sank Pommerle erneut zur Erde.
»Ach, Jule, es tut so furchtbar weh!«
Jule sah, wie das Kindergesicht immer blässer wurde. Schließlich war es weiß wie Kalk, die Lippen färbten sich bläulich. Pommerle schloß die Augen. Es war vor Schmerzen ohnmächtig geworden.
»Pommerle! – Rübezahl!«
Der Jule achtete nicht des rinnenden Blutes, das auf seine Jacke tropfte. Er packte Pommerle an der Schulter und schüttelte es.
»Du sollst nicht sterben! – Was hast du denn? – Pommerle, mach doch die Augen auf – ich trage dich heim!«
Ein Weilchen gab das Kind keine Antwort. Der Jule rieb dem Kinde die Stirn mit Schnee.
Endlich schlug Pommerle die Augen wieder auf.
»Mein Fuß, ach, mein Fuß!«
»Bleib ruhig hier liegen, ich hole Hilfe herbei. Dort unten wohnen Leute. Fürchte dich nur nicht, liebes Pommerle, es ist alles gar nicht so schlimm.«
»Ich will nicht allein bleiben, Jule, ich will heim!«
»Ich kann dich doch nicht tragen. Willst du nicht noch mal hüpfen?«
Aber Pommerle fühlte sich so matt, daß es sich kaum aufrichten konnte. Es stöhnte fürchterlich.
Jule