E.D.M. Völkel

Nullmenschen


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des Wachmanns in der Hand, blickte er über das Gelände. Der halbgeöffnete Deckel des Müllcontainers zog seine Aufmerksamkeit unwillkürlich an. Neugierig, wieso dieser nicht geschlossen war, um die eingewanderten Waschbären abzuhalten ihn zu plündern, gingen sie näher zu ihm. Sofort entdeckten sie einen schwarzen Sack, der teilweise über den Rand des Containers ragte. Fluchend und schimpfend, wer hier ein weiteres Mal illegal seinen Müll entsorgt hatte, öffneten sie den schweren Sack, um Hinweise auf den Missetäter zu erhalten. Mit einem Aufschrei wichen sie zu Tode entsetzt zurück, als das nackte Bein einer Frau sichtbar wurde. Mit zitternden Händen wählte der Fahrer den Notruf.

      Die eintreffende Polizei sperrte umgehend das Areal und vernahm eindringlich die beiden Männer. Auf der Stirn des zuständigen Pathologen Doktor Allendorf bildete sich eine steile Falte. Vor ihm hing eine weitere Frauenleiche über den Rand des Containers, die, gleich der ersten, regelrecht ausgeschlachtet worden war. Die Kollegen der Spurensicherung fanden lediglich die Fingerabdrücke der Mitarbeiter sowie des Wach- und Reinigungspersonales. Kommissarin Heinzer fluchte, was das Zeug hielt, innerhalb weniger Tage gleich die zweite Tote war eine Katastrophe. Die minimalen Hinweise zur Ersten bildeten kaum einen Ermittlungsansatz und sie bezweifelte, dass es jetzt besser werden würde.

      »Morgen weiß ich mehr«, stoppte der Doktor die Frageflut der Beamtin.

      * * * * * * *

      Jens konnte seinen Urlaub nicht so genießen, wie er sich das vorgestellt hatte. Es war bereits Dezember und an immer mehr Tagen tanzten die Schneeflocken im eiskalten Nordostwind. Auch das Marathontraining lenkte ihn nicht ab, so wie er sich das gewünscht hätte, denn automatisch kehrten seine Gedanken zu Julius zurück. Wie es gelaufen wäre, wenn er damals ihn und ihre Mutter nicht verlassen hätte. Hinund hergerissen zwischen dem Wunsch ihn kennenzulernen und dem Impuls ihn wieder aus seinem Leben zu verbannen, fand er keine Ruhe. Den Kopf in den Sand zu stecken und zu tun als sei nie was gewesen, konnte er auch nicht. Sein Leben hatte sich zu sehr verändert und er war nicht bereit so weiterzumachen wie bisher.

       ›Heute Abend fahre ich zu denen ins Clubhaus und kläre das. So wie es momentan ist, geht´s definitiv nicht weiter. Ich muss das endlich für mich bereinigen. Ist mir völlig schnuppe, ob er mich mag oder nicht. Er soll mir reinen Wein einschenken dann weiß ich wenigstens woran ich bin.‹

      Festentschlossen fuhr er die kurze Strecke nach Königstein. Sein Auto parkte er auf dem kleinen, mittlerweile gut besuchten Stellplatz in der Kurve gleich nach dem Ortsausgangsschild. Das letzte Stück lief er zu Fuß durch den winterlich anmutenden Wald. Zu jedem anderen Anlass hätte er sich die bezaubernden, teilweise abstrakt gestalteten Bäume auf seinem Weg durch die offene Schranke amüsiert angesehen. Einige Wagen überholten ihn und beleuchteten die Strecke zwischen den einzelnen Laternen, die als Wegweiser zum Clubhaus führten. Auf dem freien Platz vor der etwas heruntergekommenen Villa stand eine Feuertonne, welche mit ihrem rotglühenden Funkenschein der Umgebung einen abenteuerlichen Anstrich gab. Aus dem Inneren drang ein lautstarker Mix aus Rockmusik, Lachen und Gesprächsfetzen. Zielstrebig zog er die Haustür auf und fand sich überrascht in einer geräumigen Eingangshalle wieder, die in ein hohes, oval geschwungenes Treppenhaus überging. Fast alle Türen zu den übrigen Räumen im Erdgeschoß standen offen. Rocker von unterschiedlichen MC´s sahen ihn argwöhnisch an. Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte zur gewölbten Decke hinauf, als er hinter sich laut, »ah, die Kribbo is auch da«, vernahm.

       ›Wieso hatte ich gedacht, unerkannt hier rein zu kommen?‹

      »Was willste?«, baute sich ein muskelbepackter Hüne vor ihm auf und verschränkte demonstrativ seine starken Arme vor der Brust. Provozierend grinste er, nur auf eine Gelegenheit wartend mit den furchteinflößenden Händen auszuteilen. Neben ihm erschien ein weiterer Mann, schlank, drahtig, mittelgroß und Jens erkannte sofort Fritz, den Präsidenten des MC´s.

      »Danke Bruder, ich übernehm ihn«, sprach er leise mit tiefer Stimme und wandte sich dem Kommissar zu. Das Schwergewicht verschwand in dem großen Raum aus dem laute Gespräche und das geschäftige Treiben einer Theke drangen.

      »Was wills´de?«, wurde er zum zweiten Mal gefragt.

      »Mit Ju…., ich mein Kralle sprechen.« Der Rocker kniff seine stechenden Augen misstrauisch zusammen und kam etwas näher.

      »Privat, ich bin privat hier«, beeilte sich Jens zu sagen und versuchte einen entspannten Eindruck zu vermitteln. Bei der großen Anzahl an feindselig blickenden Rockern fiel ihm das nicht so leicht.

      »Ward hier«, befahl Fritz, zog sein Handy aus der Weste und ging ein Stück beiseite. Leise telefonierte er. Jens verstand nicht, was er sagte, sah ihn nur nicken und einen raschen Blick über die Schulter auf ihn werfen. Einen Augenblick stand er regungslos da, steckte sich eine Zigarette an, zog den Rauch tief in seine Lunge und drehte sich zu ihm um. Sein ausdrucksloser Gesichtsausdruck verriet nicht, was in ihm vorging. Die erhaltene Antwort schien Fritz nicht zu passen, abschätzend betrachtete er sein Gegenüber von Kopf bis Fuß. Letztendlich nickte er,

      »geh raus, Du wirst abgeholt.«

      Demonstrativ blieb er vor ihm stehen, Jens sah ihn nochmal an.

      ›Eindeutig, sie lassen mich nicht weiter.‹ »Danke«, er wandte sich ab und verließ die Villa. Draußen sah er sich um, hier und da standen Gäste und sprachen miteinander. Ein Flatterband begrenzte den freien Vorplatz und im Halbdunkeln erkannte er mehrere geparkte Motorräder. Ein Schatten löste sich von der Hauswand und kam auf ihn zu.

      ›Julius‹, schoss es ihm sofort durch den Kopf. ›Warum bin ich hier? Was will ich von ihm? Verflucht, wieso habe ich mich nach der Explosion zu dieser blödsinnigen Spontanhandlung hinreißen lassen? Sie hat mir nur Schwierigkeiten eingebracht. So wie alles, was mit diesem verdammten Bruder zusammenhing.‹ Seine Gedanken rasten, am liebsten hätte er einen Rückzieher gemacht und die Kurve gekratzt. Dafür war es jetzt zu spät und diese Blöße wollte er sich nicht geben.

      »Jens«, hörte er seinen Namen in der ihm vertrauten und so verhassten Stimme. Die jahrelang unterdrückten Gefühle überschwemmten ihn schlagartig und er hatte den Eindruck in ihnen zu ertrinken.

      ›So habe ich mir das nicht vorgestellt.‹ Freude, Wut, Verzweiflung mischten sich zu einem nicht beherrschbaren Chaos in ihm, das sich auf seinem Gesicht widerspiegelte. Kralle deutete mit dem Kopf Richtung Waldrand in die Dunkelheit der alten Bäume.

      ›Er könnte mir einfach so den Hals umdrehen und keinen würde es interessieren‹, war sein erster spontaner Gedanke. ›Wieso glaubte ich, er bekenne sich vor den anderen zu mir? Er ist und bleibt ein Gesetzloser, wer weiß schon wie viel er auf dem Kerbholz hat? Außerdem steht er auf der falschen Seite.‹ Resigniert nickte er, ›ich sollte gehen‹, überlegte er kurz, doch dann entschied er, ihm zu folgen.

      Kaum hatte die Finsternis der dicht gewachsenen Bäume sie verschluckt, fühlte er starke Arme, die ihn umschlangen, an einen breiten Brustkorb zogen und kurz ihn festhielten. Ein unterdrückter Schrei bahnte sich den Weg und kam als lautes Aufstöhnen aus seinem Mund.

      »Warum?« Ruckartig löste er sich und stieß Kralle fort.

      Das kurze Aufleuchten einer Zigarettenglut im Dunkeln sagte ihm, dass sie nicht allein waren. Hier konnten überall noch andere Lakotas stehen und sie beobachten.

      »Feigling!«, schrie er enttäuscht. Fluchtartig rannte er zurück über den Platz und verschwand auf dem wenig beleuchteten Weg durch den Wald. Auf halber Strecke blieb er stehen, ballte zornig die Fäuste und brüllte seine Wut und Enttäuschung in die Finsternis heraus. Der tanzende Lichtkegel eines näherkommenden Motorrades brachte ihn zur Besinnung.

       ›Welcher Teufel hat mich gerade eben geritten? Soll ich zurückgehen?‹

      Fritz trat neben Kralle.

      »Die Vergangeheid, sie hold uns alle irgendwann widder ein«, murmelte er und sah dem aufgebrachten Besucher hinterher.

      »Ja, das ist so«, bestätigte dieser und nahm den angebotenen Zigarillo. Sie hörten das Brüllen und die darin mitschwingenden