E.D.M. Völkel

Nullmenschen


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konnten sich davon überzeugen.«

      »Besucher von Mutter?«, fragend sah Jens über den Glasrand.

      »Onkel Ignatz und August?! Das waren nicht die Brüder oder Schwäger Deines Vaters.«

      »Nein, aber ich dachte die besten Freunde und dass sie uns unterstützen, weil Du abgehauen bist.« Kralles ironisches Auflachen flog durch die Nacht.

      »Wann haben die Besuche aufgehört?«

      Jens überlegte, »als ich meinen Abschluss bestanden hatte«, stellte er fest.

      »Hast Du Dich niemals gefragt warum?«

      »Na, weil ich jetzt fertig war und mein eigenes Geld verdiente.«

      »Nein, weil Du ab diesem Zeitpunkt ungehinderten Zugang zu den Datenbanken hattest und beharrlich Dein Ziel verfolgtest den gehobenen Dienst anzustreben.«

      »Woher weißt Du das alles?!«, erstaunt kam er näher, »hat Mutter Dir das erzählt?«

      »Nein. Ich weiß immer, wo ihr seid und wie es euch geht. An jedem Tag, über all die Jahre hinweg«, offenbarte er sich. »Und der Schlägertrupp, den gab es tatsächlich. Das war der vorerst letzte Versuch Mutter einzuschüchtern und sie zum Reden zu bringen.«

      Schlagartig wurde Jens bewusst, dass er die Wahrheit schon lange kannte, sie allerdings durch seine persönlichen Empfindungen verdrängt und zurechtgebogen hatte. Julius zog die Aufmerksamkeit auf sich und schützte Mutter und ihn selbst vor den Übergriffen. Kralle las in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch.

      »War seit Mutters Tod niemand mehr da?«

      »Doch aber erst letzte Woche. Da hatte ich den Eindruck, es sei jemand bei mir gewesen. Es hat nichts gefehlt, aber einige Sachen standen nicht an ihrem Platz«, gab er zu.

      »Das war, nachdem Du Deiner Kommissarin gesagt hast, dass wir Brüder sind«, stellte Kralle trocken fest.

      »Ja. Und sie hatte sofort Dich in Verdacht«, bestätigte er, »ich kläre das noch mit ihr«, versprach er.

      Sie redeten die halbe Nacht, die aufziehende Kälte mit ihren Minusgraden schien den beiden nichts auszumachen. Der Mond verschwand langsam hinter den Wipfeln der Tannen und sie beschlossen, den Rückweg anzutreten.

      Niemand bemerkte die Gestalt, welche sich im Dunkeln zwischen den Bäumen bewegte. Mit dem Nachtsichtgerät beobachtete sie die Umgebung der Blauzeder Villa, die Umrisse der beiden Männer, wie sie den Weg zur Lichtung einschlugen und lange Zeit dort miteinander redeten. Geduldig verharrte sie in der kälter werdenden Nacht, ihr Atem schwebte als Wolke zwischen den immergrünen Ästen der Tannen und Fichten. Erst als der Morgen nahte und die Morgendämmerung den neuen Tag ankündigte, verschwand sie fast lautlos.

      * * * * * * *

      Der giftgrüne Ordner füllte sich zügig. Ausgedruckte Artikel, diverse Untersuchungsergebnisse und Berichterstattungen sowie Zeugenaussagen stapelten sich aufeinander. Eva hatte diese sorgsam chronologisch sortiert. Sie zog eine Strickjacke über den Pullover und goss sich einen neuaufgebrühten Tee ein. Die Zeilen lösten eine unaufhaltsame Kälte in ihr und je mehr sie las, desto schlimmer wurde es.

      ›Es ist schon komisch, zu Beginn konnte ich mir die Tragweite überhaupt nicht vorstellen. Mit jeder weiteren Information nimmt das Ganze barbarische Formen an. Erschreckend, wie selbst in der heutigen Zeit noch mit Kindern und jungen Heranwachsenden umgegangen wird. Mädchen und Buben behandelt wie Sklaven. Mit unvorstellbaren Methoden unterworfen, ihren Willen gebrochen, um sie gehorsam zu halten.‹ Unbewusst schüttelte sie sich und las die Zeugenaussagen von jetzt Erwachsenen zu ihrer Zeit im Erziehungsheim. Sofort viel ihr das Grundgesetz ein, die Würde des Menschen ist unantastbar!

      ›Waren Kinder keine Menschen? Wieso galt dies nicht für Kinder? Warum wurden Misshandlungen nicht härter bestraft als bei einem Erwachsenen?‹ Schmerz, der sich in Zorn wandelte, stieg in ihr auf. Das Martyrium der gequälten und geschundenen Kinder wurden fleißig verharmlost, klein gehalten und sollte im Grunde genommen überhaupt nicht unter dem Deckel hervor an die Öffentlichkeit gelangen. Viele der Misshandlungen waren verjährt, sie wurden lediglich moralisch und nicht mehr strafrechtlich geahndet. Ein neuer böser Verdacht erhärtete sich in ihr.

      ›Wo waren all diese Kinder geblieben? Chris, ich muss dringend mit ihm sprechen, er hat die besten Möglichkeiten herauszufinden, wo sie stecken.‹ Noch mit dem Gedanken beschäftigt, hörte sie Moritz auf der Treppe poldern und gleich darauf sein schimpfen und fluchen.

      »Ach, zum Teufel auch, wieso sind diese Blätter so glitschig und rutschen immer auseinander?!«

      »Bist Du okay oder braucht Du Hilfe?«

      »Nein, alles gut, ich hab Dir Chris´ neuste Nachrichten ausgedruckt. Die waren jetzt der Meinung, sie müssten mal ausprobieren, wie weit sie die Stufen hinuntersegeln können«, vernahm sie seine ironische Antwort.

      »Soll ich Dir helfen?«

      »Noch habe ich zwei Beine, auch wenn das eine nicht so will, wie ich«, entgegnete er frustriert. Wortlos stand sie auf und sah die Treppe hinunter.

      »Das ist alles von Chris?!«, ungläubig sah sie auf die bis ins Erdgeschoß verteilten Seiten.

      »Ja. Er hat unheimlich viel ausgegraben. Da reiht sich eine Tragödie an die anderen. Das Allerschlimmste ist eine erstaunlich hohe Sterberate, die sich bis in die heutige Zeit zieht.«

      Rasch eilte Eva die Stufen hinunter, sammelte die Blätter ein und gab Moritz einen dicken Kuss.

      »Ich danke Dir. Komm, wir gehen runter.«

      »Danke nicht mir, ich bin lediglich dein hilfreicher Bote.« »Woran sind sie verstorben?«

      »Laut den Totenscheinen ist alles dabei. Vom Selbstmord bis zum multiplen Organversagen. Such Dir was aus, es ist hundertprozentig auf mindestens einem Totenschein zu finden.«

      »Jede Seite ist eine Person?« Ungläubig riss sie die Augen auf.

      »Ja. Vorn stehen die Daten, auf der Rückseite ist der vom Arzt ausgestellt Totenschein.« Gemeinsam betraten sie die Wohnküche. Eva breitete die Seiten auf dem Küchentisch aus und begann diese neu zu sortieren.

      »Was machst Du?«, verwundert trat Moritz neben sie.

      »Ich sehe mir die unterschiedlichen Einrichtungen an, um eine Übersicht zu bekommen. Sieh mal, da steht fast immer dieselbe Unterschrift. Naja, es ist zwar mehr ein Gekritzel beziehungsweise ein Kürzel, ähnelt sich allerdings extrem. Die Örtlichkeiten sind andere, aber alle scheinen ein und denselben Arzt zu haben.«

      »Meine Ortskenntnisse sind zwar nicht die allerbesten, aber nach den Postleitzahlen liegen die über fast ganz Deutschland verstreut.«

      »Die Ausstelldaten sind schon alt, es ist kein einziges aktuelles dabei. Sind diese Einrichtungen denn überhaupt noch offen?«

      »Warte einen Moment, ich sehe im Internet nach«, Moritz holte seinen Laptop und setzte sich zu Eva an den Küchentisch. Rasch suchte er nach Hinweisen zu den angegebenen Namen.

      »Das Erste wurde nach einem Skandal 1980 geschlossen. Dann folgen 84 und 87 die beiden nächsten. 92 das letzte«, enttäuscht sah er auf, »die gibt es alle nicht mehr.«

      »Was wurde aus den Häusern und Grundstücken?«

      »Hm, kein Eintrag, warte mal, ich sehe mir die Satellitenansicht zu den Adressen an. Häuser stehen dort, wie alt die sind kann ich nicht erkennen.«

      »Hier, Chris hat das Kleingedruckte unterstrichen. Sieh Dir mal die Namen der Träger dieser Heime an.« Eva las die Namen, stutzte und begann von neuem. Erneut hielt sie inne. »Es sind immer dieselben«, innerhalb kürzester Zeit hatte sie den Zusammenhang erkannt. »Hier, es besteht kein Zweifel, sie sind unterschiedlich lang, aber alle aus den gleichen Buchstaben gebildet. Da ist kein Zufall, dahinter steckt eine Methode.« Moritz wusste, spätestens jetzt gab es für Eva kein Halten mehr, sie hatte eine Spur gefunden und verfolgte diese, manches Mal auch bis zum bitteren und