sah er plötzlich in der Ecke einen Sack stehen. Da waren Geschenke vergessen worden! Oh nein, so etwas durfte nicht passieren. Auf dem Etikett las er, wo die Geschenke hin sollten: Mistelberg!
Zur Vorbereitung des Weihnachtsschlittenteams gehörte es, die Reiseroute mit allen Orten genau auswendig zu kennen. Nach Mistelberg dauerte die Reise auf direktem Weg nur einige Stunden, aber das Team musste vorher häufig anhalten und viele Schlenker fahren. Er konnte sie vielleicht einholen. Hugo überlegte nicht lange. Er nahm den Sack zwischen die Zähne, schwang ihn auf seinen Rücken und humpelte los, so schnell er konnte. Er lief durch verschneite Wälder und über offene Felder. Ab und zu sah er in der Ferne die Lichter einer Stadt. Nach einer Stunde musste er anhalten. Sein Huf pochte fürchterlich. Zum Kühlen schaufelte sich Hugo etwas Schnee in den Gips. Das tat gut! Er knabberte kurz an ein paar Grashalmen, die dürr aus dem Schnee herausragten. Aber er durfte sich nicht zu lange ausruhen! Vorsichtig setzte er den Huf auf den Boden auf. Es tat immer noch ziemlich weh, aber er konnte weiterhumpeln. Der Sack drückte unbequem auf seinem Rücken. Die Rentiere hatten das Ziehen des Schlittens trainiert, das Lastentragen war er nicht gewohnt. Hugo bekam Seitenstechen. Aber er musste weiter. Die Kinder von Mistelberg würden sonst heute Nacht keine Geschenke bekommen. Das durfte nicht sein! Keuchend und humpelnd schleppte sich Hugo weiter.
Endlich sah er in der Ferne die Lichter der kleinen Stadt. Er konnte kaum noch auftreten. Der Sack auf seinem Rücken rutschte und drückte. Also nahm er ihn wieder zwischen die Zähne. So kam er noch langsamer voran, weil der Sack ihn beim Atmen hinderte und er ihn immer wieder absetzen musste. Auf drei Hufen stolperte Hugo ungelenk mit dem Sack im Maul langsam auf die Stadt zu, als er hinter sich ein leises Klingeln und das Klappern galoppierender Rentierhufe hörte.
Das Geräusch wurde schnell lauter und bald konnte Hugo den Schlitten mit seinen Teamkollegen davor erkennen. Endlich! Als das Gespann langsam neben ihm zum Stehen kam, ließ Hugo den Sack fallen und kippte gleich daneben in den Schnee, wo er erschöpft liegen blieb. „Ihr habt den hier vergessen“, keuchte er mit letzter Kraft.
Der Weihnachtsmann stieg vom Schlitten und besah sich den Sack und das erschöpfte Rentier mit dem eingegipsten Vorderhuf. Er runzelte die Stirn.
„Hugo, das war sehr leichtsinnig von dir. Du bist doch verletzt!“
„Ich wollte immer nur ein Weihnachtsrentier sein“, flüsterte Hugo. Sein Huf tat wirklich ziemlich weh.
„Trotzdem war das nicht gerade klug! Aber auch sehr tapfer. Das wäre da vorne in der Stadt eine böse Überraschung geworden. Für Mistelberg hast du Weihnachten gerettet. Komm zu mir auf den Schlitten – weiterlaufen kannst du ja keinesfalls! Aber du musst auch arbeiten. Du wirst beim Geschenkeverteilen mit anpacken.“
Beim Heraufklettern musste der Weihnachtsmann Hugo helfen. Auf dem Schlitten baute er aus bereits leeren Säcken ein Kissen, auf das Hugo seinen Huf legen konnte. Als der Schlitten klingelnd in Mistelberg einfuhr, hatte Hugo sich schon gut erholt. Die Kinder liefen auf dem Marktplatz um den Schlitten zusammen. Dort stand auch ein großer Weihnachtsbaum mit vielen Lichtern.
Hugo blickte in viele leuchtende Augen, als er die Geschenke aus dem Sack, den er so weit geschleppt hatte, herausholte und dem Weihnachtsmann weiterreichte, der sie lachend an die Kinder verteilte. Hugo war so glücklich, dass sein Huf gar nicht mehr schmerzte. Jetzt war er nicht nur ein Weihnachtsrentier, sondern auch ein Weihnachtsretter.
Den Rest der Nacht saß er neben dem Weihnachtsmann auf dem Schlitten und half ihm in jeder Stadt beim Geschenkeverteilen. Als sie am Morgen mit lauter leeren Säcken und müde zurück ins Weihnachtsdorf kamen, war Hugo sehr zufrieden. Er humpelte nach Hause. Obwohl er sich auf dem Schlitten schon etwas erholt hatte, war er doch froh, dass der Weihnachtsmann ihn am Ende noch einmal ermahnt hatte, bloß nicht beim Training zu erscheinen, bevor der Huf ganz verheilt war. Aber in ein paar Tagen würde es soweit sein, dann könnte er anfangen, sich vorzubereiten und im nächsten Jahr mit den anderen mitlaufen!
Maren Schütz wurde 1983 geboren und wuchs im ländlichen Rhein-Sieg-Kreis auf. Nach dem Abitur studierte sie Medizin an der Uni Bonn. Sie arbeitet als Ärztin in einer Klinik und lebt in Bonn. In ihrer Freizeit schreibt sie Kurzgeschichten. Im Papierfresserchens MTM-Verlag wird ihr Bilderbuch „Das Glück hinter dem Horizont“ veröffentlicht.
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Der Ersatzweihnachtsmann
Es war Heiligabend. Die meisten Menschen saßen jetzt in der warmen Stube unter dem Weihnachtsbaum. Die Kinder packten die Geschenke aus und die Erwachsenen genossen bei Glühwein und Gebäck die anheimelnde Stimmung.
Der Zugbegleiter, Markus Müller, ein Eisenbahner mit Leib und Seele befand sich mit seinem Zug auf der Fahrt nach Garmisch. Es saßen nur noch zehn Reisende im Zug. Auch Markus Müller würde, wenn er am Zielbahnhof angekommen war, Feierabend machen. Er hatte seit dem Tod seiner Frau die Freude an diesem Fest verloren. Deshalb ließ sich der 55-Jährige schon seit Jahren an Heiligabend für die Spätschicht einteilen.
Es hatte den ganzen Tag geschneit und der Schnee hatte sich wie dicker Zuckerguss über die Landschaft gelegt. Die Straßen hatten sich in Rutschbahnen verwandelt. In Oberau stieg nur ein Fahrgast ein. Es war ein Weihnachtsmann. Er begrüßte den Zugbegleiter mit einem „Fröhliche Weihnachten“. Markus Müller erwiderte den Gruß und plauderte nach der Abfahrt ein wenig mit dem Weihnachtsmann. Dieser hatte seine Arbeit fast vollständig erledigt und der Sack mit den Geschenken war leicht. Eine Familie wollte er noch besuchen, bevor auch für ihn Feierabend war.
Der Zug fuhr in Garmisch ein. Der Zugbegleiter verabschiedete sich von seinen Fahrgästen. Der Zug hielt, die Türen gingen auf und der Weihnachtsmann, dessen langer Mantel sich in der Tür verfangen hatte, stürzte zu Boden. Schnell war Markus bei ihm. Er befreite ihn und versuchte, ihm aufzuhelfen. Aber der Weihnachtsmann stöhnte bei der kleinsten Bewegung und klagte über Schmerzen im Bein. Der Zugbegleiter besah sich das Ganze und entschied, einen Notarzt zu rufen. Als dieser eintraf, hatte Herr Müller schon die Erstversorgung übernommen. Der Notarzt lobte die Arbeit und stellte dann fest: „Der Knöchel ist wahrscheinlich gebrochen. Sie müssen sofort in die Klinik.“
Jetzt traten dem Weihnachtsmann die Tränen in die Augen. Er flüsterte dem Zugbegleiter, der die ganze Zeit bei ihm geblieben war, zu: „Eine Familie in der Herbststraße muss ich noch besuchen. Die Kinder warten doch sehnsüchtig auf den Weihnachtsmann.“ Bittend sah er den Eisenbahner an: „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber könnten nicht Sie vielleicht?“
Markus Müller schüttelte den Kopf. „Nein, das geht auf gar keinen Fall. Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte.“ Heftig schüttelte er den Kopf. Der Weihnachtsmann startete noch einen Versuch und der Zugbegleiter merkte, wie schwer ihm das Sprechen fiel.
„Es sind meine eigenen Enkelkinder. Lea ist fünf Jahre alt und sitzt im Rollstuhl und Mark ist vier. Sie freuen sich so sehr auf den Weihnachtsmann.“
Dem flehenden Blick des Weihnachtsmannes hatte Markus nichts entgegenzusetzen und er fragte: „Wie ist die Adresse und was soll ich sagen?“
Überglücklich drückte ihm der Weihnachtsmann die Hand. Er erklärte ihm alles. Zu guter Letzt kam der Weihnachtsmann in den Krankenwagen und der Zugbegleiter stand mit dem Kostüm, dem goldenen Buch der guten Taten und den Geschenken da. Markus gab sich einen Ruck und machte sich auf den Weg. Bis er die Herbststraße erreichte, überlegte er, was er sagen sollte. Und dann erinnerte er sich an ein Weihnachtsfest, als er selbst fünf oder sechs Jahre alt gewesen war. Damals besuchte ihn der Weihnachtsmann. Nun wusste er, was zu tun war. Er klingelte. Eine blasse Frau Mitte dreißig öffnete die Tür und blickte ihn erstaunt an.
„Ich bin der Ersatzweihnachtsmann“, flüsterte Markus und erklärte ihr die näheren Umstände. Die Frau führte ihn ins Wohnzimmer, in dem die beiden Kinder mit ihrem Vater unter dem Weihnachtsbaum saßen und warteten. Als sie den Weihnachtsmann erblickten, lief Mark ihm entgegen und Lea streckte ihm die Hände entgegen. Mit tiefer Stimme begrüßte er sie und fragte, ob sie das ganze Jahr artig waren. Er schlug sein großes goldenes Buch auf und las die guten Taten und ihre Streiche vor. Zum Schluss sangen die Kinder für ihn Oh