Jan Kjaerstad

Femina erecta


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einen der vielen kleinen Fjordarme mündete.

      Die Blumenschachtel in der einen Hand, die Einkaufstasche in der anderen, hatte sie den Jahr für Jahr stärker befahrenen Drammensveien überquert, die kleine Gruppe von Läden hinter sich gelassen und war in die ruhigen, schmalen Straßen gelangt, die sich den Höhenzug zwischen dem Fjord und Fornebulandet bergauf schlängelten. In der Stadt lag kaum noch Schnee, hier draußen dagegen schon, im Schatten größere Verwehungen. In einem Garten hatten zwei Jungen kleine Schneemänner in Reih und Glied aufgestellt, die sie jetzt umzuschießen versuchten. »Dein Oberst ist gefallen!«, hörte sie. Jungen und Krieg. Warum dachten sich Mädchen nie so ein Spiel aus? Sie lächelte und ging weiter die Anhöhe hinauf, erfreute sich an dem lauten Vogelgezwitscher ihres Einkaufsköfferchens, schnupperte in die Luft und gewahrte den Duft des Frühlings. Sie war in dieser Landschaft aufgewachsen, kannte jeden Fels, jeden Baum, jeden Torpfosten, wusste, wer in den dahinter liegenden Häusern wohnte oder gewohnt hatte, Geschäftsleute, Reeder, hohe Beamte, Künstler, Akademiker – und über ihnen allen ihr König, Fridtjof Nansen, am Hang auf der anderen Seite. Viele stattliche Häuser standen hier, nicht zuletzt die weiße Festung des Schiffsreeders Klaveness ganz oben auf dem Gipfel, sie sah das jetzt deutlicher als in ihrer Kindheit, denn damals hatte sie nie daran gezweifelt, dass sie selbst in der märchenhaftesten aller Villen in Lysaker wohnte, zumindest in Lagåsen, wie ihre Gegend mit der Zeit genannt wurde. Dass sie hier wohnen durfte, hatte sie ihren Großeltern zu verdanken, dem Großvater und seinem Vermögen, der Großmutter und ihrem ausgefallenen Geschmack.

      Wie wir es uns vorstellen, oder zumindest vorzustellen versuchen, wäre es nicht undenkbar, wenn Rita Bohre einen Augenblick in der Auffahrt innegehalten hätte, um sich an dem Anblick der gemauerten Villa zu ergötzen, nur knapp unterhalb des Gipfels gelegen und geradezu hineingegraben in den Berg an einer Stelle, an der die Neigung etwas schwächer ausgeprägt war, der langgestreckte Garten jedoch in einen Steilhang, fast eine Schlucht auslief. Für Rita war dieses Haus schon immer ein Kunstwerk. »Palladio«, hatte die Großmutter gesagt, die sich mit Architektur auskannte zu einer Zeit, da wenige Frauen sich damit auskannten oder sich überhaupt auskennen wollten. »Villa Barbaro«, hatte die Großmutter gesagt. Rita dachte, dass Thea Bohre wohl erst im Nachhinein von diesen berühmten Villen erfahren hatte, und obschon die Villa Bohre klassizistische Züge aufwies, womöglich sogar von dem Renaissancearchitekten Palladio inspiriert war, konnte die erwachsene Rita auf den Bildern, die sie von der Villa nördlich von Venedig sah, keine allzu große Ähnlichkeit erkennen – sofern sich darin nicht ein Protest gegen den nationalromantischen, mit dem Amtsrichterstil vermischten Drachenstil ausdrückte, der damals um sich griff und nach und nach viele der in der Nachbarschaft errichteten Häuser prägte. Zudem besaß die Villa Bohre zwei niedrige Flügel, die symmetrisch beidseits der zweistöckigen Mitte herausragten. Wodurch sich das Anwesen aber am meisten von einer italienischen Prachtvilla unterschied, war der Charakter des Gartens, ein geordnetes Gestrüpp, dazu die Obst- und die hohen Laubbäume mit der riesigen, pyramidenförmigen Eiche wie ein Hofbaum in der Mitte. Und vor allen Dingen: dass man nicht über weite, urbar gemachte Felder hinwegblickte, sondern über einen graublauen Fjord. »Das ist Norwegen«, soll die Großmutter, als sie bereits einige Jahre hier wohnten, eines sonnenflirrenden Maitags gesagt haben. »Einen Fjord sehen durch blühende Apfelbäume.«

      Für Rita war es ein kurzer Weg gewesen zu dem Haus, in dem Erik Werenskiold in seinem Atelier gestanden und genau diese Aussicht gemalt hatte, ein kurzer Weg zum Hause Polhøgda, in dessen Turm ein melancholischer Fridtjof Nansen gesessen war.

      Jetzt waren beide tot.

      Die Zeit.

      In diesem Jahr, 1940, fiel Ritas Geburtstag, der 6. April, auf einen Samstag. Rita hatte es immer zu schätzen gewusst, Anfang April geboren zu sein, weil die Jahreszeit einen erbaulichen Rahmen um die Feier herum bildete. Dieses Jahr aber, besonders in den letzten Tagen, war eine Unruhe in ihr eingezogen. Es war, als hätte sie eine leichte Erschütterung im Boden wahrgenommen. Denn die Geschichte regte sich. Irgendetwas, das spürte sie, würde geschehen. Etwas, was das kleine Norwegen noch nie erlebt hatte. Ein unüberschaubares, weltumspannendes Drama, in das die Menschen in Norwegen, auf ganz andere Weise als jemals zuvor, verwickelt werden könnten.

      Trotz ihrer Besorgnis hatte sie beschlossen, positiv zu bleiben, und vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich schon während der letzten Vorbereitungen ein Glas Sherry genehmigte; sie trank sonst selten, sie hatte nicht vor, zu enden wie ihre Mutter, die ihre letzten Jahre hinter einem Schleier aus Portwein zugebracht hatte, Portwein, den sie zur Tarnung aus einer Teetasse trank. Aber der Sherry tat gut. Sie schenkte sich noch ein halbes Glas ein und erkannte gleichzeitig, dass sich hinter ihrer Unruhe noch eine andere Art Nervosität verbarg. Die Befürchtung, den Anforderungen nicht zu genügen. Warum? Sie war 44. Sie hatte Erstaunliches geleistet. Sie hatte, als eine von wenigen Frauen, eine feste Anstellung an der Universität. Sie hatte drei wundervolle Kinder. Ein Haus, um das die Leute sie beneideten. Keinen Mann, aber trotzdem. Woher diese Aufgewühltheit? Diese plötzliche Unsicherheit?

      Die Gäste standen im Wohnzimmer und unterhielten sich vor den großen Fenstern, die auf den Fjord hinausgingen. Die Herren im Smoking, die Damen in langen Kleidern. Rita genoss den Anblick. Wie ein Zeichen von Zivilisation, passend zu den vier Säulen vor der Giebelwand draußen. Nachdem sich der Neon-Kreis aufgelöst hatte, war es ihr Traum gewesen, einen Salon ins Leben zu rufen, eine erlesene Auswahl an Menschen in ihr geräumiges Wohnzimmer zu laden, zu stimulierenden Gesprächen, Lesungen, Konzerten zu ermuntern. Daraus war nie etwas geworden, sofern denn nicht dies, ihr Geburtstag, einmal im Jahr ihren Salon darstellte.

      Auch die Gäste bekamen Sherry. Auf diese Weise konnte sie gut einige der vielen Flaschen loswerden, die ihre Mutter ihr im Keller hinterlassen hatte. Zwei Gruppen hatten sich gebildet. Ihre beiden Jungs und Maud, die zwei Herren und Ragnhild. Rita betrachtete sie, während sie die beiden Wasserkaraffen auf den Tisch stellte und die Kerzen anzündete. Die Rotweinflaschen für den Hauptgang standen geöffnet auf der alten Anrichte aus Walnussholz. Ihre Söhne Sigurd und Harald sahen auf einmal so erwachsen aus, und das war nicht allein auf ihre Kleidung zurückzuführen. Sie waren erwachsen. Und genauso blond wie ihr Vater. Arisch, wie ein Deutscher gesagt hätte. Wie oft war sie in Verzweiflung geraten über all die Lausbübereien, die sie als Kinder angestellt hatten, die unerledigten Hausaufgaben, das gefährliche Klettern auf hohe Bäume, die brutalen Schneeballschlachten im Winter, die halsbrecherischen Schlittenfahrten auf der Korketrekkeren-Rodelbahn. Und jetzt sieh sie dir an! Eine Augenweide. So verändert. Sie hatte den letzten Roman des jungen Grieg nicht gelesen, aber der Titel, entlehnt von Henrik Wergeland, gefiel ihr: Jung noch muss die Welt sein. Sigrid Undset lag falsch mit ihrer Behauptung, dass der Menschen Herzen sich nicht veränderten. Alles, auch die Spezies Homo sapiens, der hart geprüfte Mensch, befand sich in einer Entwicklung.

      Hinter alldem jedoch: der Stein, der ihr im Magen lag. Die Zeitungen schrieben von Meeren voller Kriegsschiffe. Manche meinten, Norwegen könnte von einer Invasion heimgesucht werden.

      Bjørg, ihre Tochter, fand stets eine Ausrede, um sich vor solchen Anlässen aus dem Staub zu machen. Sicher war sie bei Esther, ihrer zurückhaltenden und rätselhaften Freundin. Rita hoffte, ihre Tochter würde noch auftauchen. Wenigstens ein bisschen Klavier könnte sie doch für sie spielen, irgendetwas Erbauliches, Bach vielleicht, eine der Englischen Suiten, eine von denen, die nicht in Moll geschrieben waren; keine Tischgesellschaft, keine Unterhaltung konnte einen besseren Auftakt erfahren als durch Johann Sebastian Bachs Klänge, ein Hinweis darauf, wie weit es der Mensch mit seinem Ideenreichtum, seiner Schöpferkraft zu bringen vermochte. Das durfte man nie aus den Augen verlieren, ganz gleich wie düster die Aussichten standen: die JSB-Korrektion.

      Ja. Sie brauchte Trost. Wie sie so dastand und vom Esszimmer aus die Gäste beobachtete, traf es sie wie ein Schlag. Denn da war auch noch etwas anderes. Seit sie den Ablehnungsbescheid für die Stelle bekommen hatte, auf die sie sich beworben hatte, war sie betrübt, eine Stelle, von der sie immer geträumt hatte. Ein Schlag. Und sie hatte nicht mit Wut reagiert, sondern mit Trauer. Hatte sich eingesperrt. Es war gut, wieder Menschen um sich zu haben. Die Familie. Freunde.

      Rita ließ den Blick auf der attraktiven Frau ruhen, die von ihren beiden Söhnen flankiert wurde, während Maud, die junge Dame, ständig einen Schritt zurücktrat, wie um sich Raum zum Luftholen