Jan Kjaerstad

Femina erecta


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warf Sigurd ein. »Jedenfalls haben sie im vorigen Krieg die Russen nicht in Frieden gelassen. Und sie müssten nicht gleich bis ins alte Persien zurückdenken, um gewarnt zu sein, sie bräuchten sich bloß Napoleon anzusehen.«

      »Vielleicht haben sie ja doch etwas gelernt«, sagte Albert. »Vergessen wir nicht, dass Ribbentrop und Molotow letztes Jahr im August einen Nichtangriffspakt unterzeichnet haben.«

      »Es ist völlig undenkbar, dass der Krieg hierherkommt«, wiederholte Harald.

      Sigurd erhitzte sich von neuem, doch Rita unterbrach ihn und wandte sich an Harald, bemüht, nicht wie eine geduldige Mutter zu klingen: »Es lässt sich unmöglich voraussehen«, sagte sie, »wie die Geschichte sich entwickeln wird.« Die Aussage veranlasste Harald zu einem neugierigen Seitenblick in Mauds Richtung, aber Rita fuhr fort, jetzt mit noch größerem Eifer. Denn was habe das Studium der Geschichte, der Perser, sie gelehrt? Ja, dass niemand genug Fantasie besäße zu sehen, dass das Undenkbare und Unwahrscheinliche geschehen könne, und das, obwohl es über die Jahrhunderte wieder und immer wieder geschehen sei. »Denken wir nur an den Juni 1914«, sagte sie. »Eine Idylle. Voller Glauben an die Zukunft. Wer hätte damals geglaubt, dass Europa vor einem vier Jahre andauernden Inferno stand, bei dem Millionen von jungen Männern in rattenbefallenen Schützengräben den Tod finden sollten? Im Juli lag die kaiserliche Yacht Hohenzollern noch in Sonnenschein gebadet vor Balestrand!«

      Die Zeit. Wo waren die Jahre geblieben? In jenem Sommer war sie selbst in einem sonnenglitzernden Fjord gepaddelt, in einem Kajak, das Nansen für sie besorgt hatte. Achtzehn Jahre alt und voller Optimismus, war sie mit jugendlicher Kraft in dem kleinen Gefährt durchs Wasser geschossen und hatte von all den Reisen geträumt, die sie unternehmen würde, in den Osten, nach China.

      Maud und Ragnhild schauten sie an. In ihren Blicken lag Zustimmung. Maud lehnte nicht ab, als Dagny ihr noch Cognac einschenken wollte.

      Max lächelte dümmlich. Max mit seinen glatten, bibelschwarzen Haaren und dem jungenhaften Gesicht. Und es wiederholte sich: Seine Augen waren nicht auf ihr Gesicht, sondern in ihren Ausschnitt gerichtet. Wie um sich wieder zu fangen, beugte er sich nach vorn und sagte leise, damit nur sie es hören konnte: »Schade, dass du die Professorenstelle nicht bekommen hast, Rita.«

      Also wusste er es.

      »Ja, ich hätte geglaubt, ich würde vor einen akademischen Senat treten, nicht vor einen Ableger der Freimaurerloge«, antwortete sie ebenso leise. »Wieso kriegt ihr immer so eine Angst, sobald eine Frau euer Revier betritt?«

      Weder Max noch sonst jemand hatte auch nur eine Ahnung davon, wie enttäuscht sie gewesen war. Dass sie eine Zeit lang nur im Bett herumgelegen war. Eine solche Gelegenheit würde sich ihr wahrscheinlich kein zweites Mal bieten. Um sich wieder aufzurappeln, musste sie auf den alten Befehl ihrer Mutter zurückgreifen, den sie ihr jedes Mal zugerufen hatte, wenn Rita zu Boden gegangen war – sei es durch ein Missgeschick, einen Misserfolg, oder weil ihre Brüder sie herumgeschubst hatten: »Steh auf! « Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, niemals zu jammern. »Steh aufrecht, Rita. Was auch immer dir widerfahren mag.« Dieses Diktum ihrer Mutter war für sie mit der Zeit zu einem Königinnengedanken geworden: die Idee der Femina erecta.

      Max tat, als hätte er sie nicht gehört, wandte sich den jungen Damen zu und erklärte mit lauter Stimme, schon in der Grundschule habe Rita für die Perser Partei ergriffen. Lustig, nicht wahr?

      Rita beschrieb mit dem Glas kleine Kreise in der Luft, als wolle sie ein Erinnerungsrad in Gang setzen, ehe sie zur Verteidigung ansetzte. Sie sagte, dies liege ausschließlich daran, dass alle so in die Griechen vernarrt seien, alles schwarz-weiß sähen. Und Max sei ja nicht im Klassenzimmer gewesen: Sie habe lediglich gefragt, ob der Lehrer mehr über die Perser, über ihre Kultur erzählen könne. Die Schüler hätten ja den Eindruck gewinnen müssen, diese Perser seien gemeine Banditen gewesen.

      Es war, als ob der Cognacdunst ihr Gedächtnis stimulierte, denn auf einmal kehrte alles zurück. Die Schule. Der Ärger über den Unterricht. Musste Kyros der Große denn nicht auch ein fähiger Staatsmann gewesen sein, nicht nur ein außerordentlicher Krieger? In den Religionsstunden wurde er als Held besprochen, war er es doch gewesen, der den im babylonischen Exil lebenden Juden die Heimkehr ermöglicht und ihnen sogar die Errichtung eines Tempels erlaubt hatte. In den Stunden hatte Rita Fragen gestellt, nachgebohrt, war neugierig geworden auf Kyros und Dareios. Wie hatten sie es fertiggebracht, dieses riesige Reich, das größte, das die Welt bis dahin gesehen hatte, zu vereinen? Mussten sie denn nicht auch Großmut und Toleranz gezeigt, großes Geschick in der Organisation, bei der Gesetzgebung, im Straßenbau bewiesen haben? Und was war mit Xerxes geschehen, nachdem er aus Griechenland heimgekehrt war, er regierte noch volle 14 Jahre? Wie hatte es in den Städten Susa und Ekbatana ausgesehen? Stimmte es, dass die Mauern von Ekbatana in sieben verschiedenen Farben gestrichen waren? Der Lehrer hatte verzweifelt die Hände gehoben, oder Rita vielmehr zum Schweigen angehalten, aber Rita hatte nicht aufgegeben, wollte etwas über ihre Religion erfahren, nicht nur über den Zeus und die Athene der Griechen, sie wollte von Ahura und Mazda hören, wollte so viel wie möglich über die »Schurken« der Geschichtsstunden wissen. Das einzige Ergebnis war, dass sie gründlich zum Narren gehalten wurde, insbesondere, nachdem die Jungenklasse Wind davon bekommen hatte. Später jedoch, vielleicht aus Protest, hatte sie alles gelesen, was sie über persische Geschichte in die Finger bekam, und am Ende war sie, wie nur wenige aus Norwegen zu jener Zeit, nach Persien gereist, hatte die Ruinen von Persepolis besichtigt, und immer wieder kam sie seither auf etwas zurück, was sie ihren persischen Blick nannte, eine Offenheit für die größeren Maßstäbe, für andere Blickwinkel.

      Xerxes. Ein Lehrsatz. Geschichte als Gleichung mit zwei Unbekannten.

      Als Rita aus ihrer eigenen Gedankenwelt zurückkehrte, wirkte die Atmosphäre weniger angespannt. Sie achtete darauf, dass Dagny allen nachschenkte, deren Gläser leer waren, dass Harald Holz im Kamin nachlegte, und einige Minuten lang standen die Zeichen gut für ein zerstreutes Geplauder, die Gäste unterhielten sich in Zweiergruppen über Alltägliches. Doch dann, vielleicht wegen des Cognacs oder weil es unmöglich war, das Thema außen vor zu lassen, kehrte die Diskussion wieder zurück zu Norwegen und der Kriegsgefahr. Alle redeten laut durcheinander, und auch die jungen Damen brachten ihre Anschauungen ein. Nur Albert schwieg. Rita hatte den Eindruck, als ob ihn das alles eigentlich langweilte. Seine Schiffe waren auf allen Weltmeeren unterwegs, auf Meeren voller U-Boote, und er saß da und langweilte sich. Hatte sie nicht kürzlich erst gelesen, es seien bereits fünfzig norwegische Schiffe verloren? Oder täuschte sie sich? Schmiedete er, hinter seiner Maske, gerade einen Plan, wie er Dagny ins Schlafzimmer locken konnte? Man sollte nie unterschätzen, wie verblüffend einfach die Männer gestrickt waren.

      Erneut beobachtete sie ihre Söhne in ihrem Wetteifern um das, was für sie der heilige Gral des Abends war, Mauds Aufmerksamkeit. Ragnhild musste das ebenfalls bemerkt haben, denn die meiste Zeit saß sie nur da und lächelte, als ob dieses ganze Drama sie amüsierte oder sie es als lehrreich und spannend empfand.

      Rita hatte zu viel getrunken, setzte aber trotzdem das Glas nicht ab. Das Ganze fing langsam an, ihr zu entgleiten, allerdings war es ihr inzwischen egal, welchen Ausgang der Abend nahm.

      Abermals ergriff Maud die Initiative: »Aber ihr Kulturbegeisterten …«, fing sie mit einer Handbewegung Max, Harald und Sigurd ein, »steht die Kultur diesem Unfug wirklich machtlos gegenüber?«

      Albert gab einen Seufzer von sich und murmelte etwas über das idealistische Geschwafel der Künstler, wurde aber von Max unterbrochen: »Die Musiker versuchen wenigstens, etwas zu tun!« Er wirkte froh über die Gelegenheit, von dem Konzert erzählen zu können, das er Anfang der Woche in der Universitätsaula besucht hatte. Apropos Kriegsgefahr: Wenn die Deutschen wirklich in Norwegen einfallen wollten, hätten sie wohl kaum zuerst ihren besten Dirigenten geschickt. Oder was sie denn glaubten, zuerst Furtwängler und dann Bombenflugzeuge?, sagte Max. Wieder Gelächter. Max pries dieses Konzert in den höchsten Tönen, schwärmte hemmungslos von Furtwängler, von der Art und Weise, wie er die nicht gerade erstklassigen Musiker des Oslo Filharmoniske Orkester inspiriert habe. Nie hätten Haydn, Richard Strauss und Beethoven in einem norwegischen Konzertsaal besser geklungen. Der Höhepunkt jedoch sei mit der Zugabe erreicht worden, bei der Ouvertüre zum Tannhäuser von Wagner.