Jan Kjaerstad

Femina erecta


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einen Freund, aber ob sie Kinder bekommen sollte?

      Bjørg kam mit wuchtigen Schritten ins Zimmer, griff sich einen der Holzscheite aus dem Kamin und hielt ihn am verkohlten Ende, während der oberste Teil immer noch brannte. Es sah aus, als hielte sie eine Fackel in der Hand. Rita wollte etwas tun, wollte sie um Entschuldigung bitten, Worte finden, mit denen sie ihre Tochter beruhigen konnte, doch es geriet alles durcheinander, sie saß da wie gelähmt, denn Bjørg stand mit dem brennenden Holzstück einfach nur da und hielt es in die Höhe, als wolle sie etwas sagen oder als sei die Tatsache, dass sie diese Fackel hochhielt und sich dabei absichtlich verletzte, selbst schon eine Aussage. Für Rita sah es aus, als ob es Bjørg sei, die brannte. Als wäre sie selbst die Fackel.

      »Ihr liegt alle falsch!«, rief sie. »Der Weltkrieg hat schon begonnen. Er hat im November vor anderthalb Jahren begonnen. In der Nacht, als die Nazis in Deutschland die Synagogen niederbrannten.«

      Max blieb unbeirrt sitzen, murmelte wie zu sich selbst: »O, diese Juden, diese Juden.«

      »Bjørg, leg das weg!«, rief Ragnhild. »Kümmere dich nicht drum, was die sagen!«

      »Sei vorsichtig, sonst verbrennst du dich noch!«, rief Maud.

      Beide streckten die Arme aus wie in einem Versuch, sie zu erreichen.

      Nur Albert handelte, er war vom Stuhl aufgesprungen und auf dem Weg zu Bjørg, wie um zu verhindern, dass sie die Fackel durchs Zimmer warf und die Gardinen in Brand steckte. Doch dann schleuderte sie das Holzscheit einfach zurück in den Kamin, dass die Funken stoben, ging rasch auf Max zu und verpasste ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige, so dass auf seiner Wange schwarze Rußstreifen zurückblieben.

      »Jemand muss diese geistesgestörte Weibsperson einsperren!«, rief er.

      Albert hatte seine Ruhe wiedergefunden. »Was kann erquickender sein als eine Ohrfeige von einer temperamentvollen Frau?«, scherzte er und erhob das Glas in Bjørgs Richtung, bevor diese wieder hinaus und nach oben in ihr Zimmer verschwand. Und als sei nichts vorgefallen, kehrte er zum Thema des Abends zurück: Die Herrschaften bräuchten keine Angst zu haben, Norwegen sei schlichtweg uneinnehmbar. Die Landschaft sei eine einzige große Festung. »Den Feind in die Berge locken, und unsere Skiläufertruppen machen ihnen den Garaus! Skål!«

      »Jesses, wir haben Skiläufertruppen«, sagte Max und rieb sich mit einem Taschentuch Ruß von der Wange.

      Rita wollte Bjørg hinterhergehen, sah aber, dass Dagny bereits auf dem Weg die Treppe hinauf war, um sich um sie zu kümmern. Keiner konnte besser mit Bjørg umgehen als Dagny. Rita blieb sitzen.

      Bjørg. Immer war irgendetwas mit ihr. Ein Kummer, der kein Ende nahm.

      Versuchen, sich keine Sorgen zu machen. Versuchen, an etwas anderes zu denken.

      Aber was war das bloß mit diesen Männern, die einfach mir nichts, dir nichts drauflosbrüllten? Wie konnten sie so schrecklich verletzende Dinge sagen, nur um sie im nächsten Moment wieder zu vergessen? Oder über Krieg schwatzen, als handle es sich um einen vergnüglichen Zeitvertreib? Rita erkannte, dass dies, diese männlichen Kriegsfantasien, außerhalb ihrer Auffassungsgabe lagen. Eine Krokodilmentalität. Und schlimmer: außerhalb ihres Einflussbereichs. Oder war es schlicht so, dass den Frauen, allen Frauen Europas, jene Gemeinschaft, jene Allianz fehlte, die diese gewaltsamen, diese maskulinen Pläne zu beeinflussen vermochten? Rita merkte, wie sie kopfschüttelnd und still sitzen blieb. Sogar diese Feier wurde vollkommen von Männern dominiert, den erwachsenen mit ihrer Erhabenheit, den beiden jungen mit ihrer Kampfeslust und ihrer natürlichen Selbstsicherheit. Ragnhild, obwohl jünger als sie, stand ihnen an Klugheit in nichts nach, aber sie ließen ihr keine Chance. Trotzdem konnte Rita nicht anders, als zu glauben, dass die beiden jungen Damen es einmal leichter haben würden als sie, niedrigeren Schwellen begegnen würden. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, war sie sich schon wieder nicht mehr so sicher.

      Wo war Maud? Rita stand auf und ging in den Vorraum. Hatte sie das Haus verlassen? War das ein Protest? In der Halle, bei der Treppe, traf sie auf Albert. »Du kannst dich wieder entspannen, Dagny ist gerade nicht in der Küche«, sagte sie. »Gib’s auf.« Er überhörte, was sie sagte, glotzte an die Decke und machte eine Bemerkung über das Haus, das seiner Meinung nach zu verfallen beginne, weil es an Instandhaltung mangle. Ja, erwiderte sie, genau an der Stelle blättere großflächig die Farbe ab, und das sei ärgerlich, weil dadurch die schönen Dekorationen zu verschwinden drohten, ansonsten aber sei es wohl nicht so schlimm? Was er damit sagen wolle? Ob er etwa damit ausdrücken wolle, dass sie ihr gemeinsames Erbe verkommen lasse, ein Haus, das übrigens jetzt ihr allein gehöre?

      Als ob das eine Antwort wäre, fragte er wie nebenbei, ob er ihr dabei behilflich sein solle, die Villa zu verkaufen. Ob das denn eine Bleibe für die Zukunft sei? Hätte die Gegend inzwischen nicht viel von ihrem Charme verloren?

      Er hatte zu viel getrunken. Genau wie sie.

      Warum aber redete er auf einmal so abschätzig über das Viertel? Hatte er vergessen, wie stolz er in seiner Jugend gewesen war? Er hatte behauptet, Lysaker sei eine Art Jotunheimen der Kultur. Ein Nationalheiligtum. Einmal hatte er eine Karte von Lagåsen gezeichnet und bei vielen der Häuser Zahlen hineingeschrieben. Zuunterst konnte man außerdem bei jeder Zahl sehen, wer in dem jeweiligen Haus wohnte. Er hatte versucht, die selbstgezeichneten Karten für zehn Øre am Bahnhof Lysaker zu verkaufen.

      Mauds Jacke hing noch an ihrem Platz, und Rita beeilte sich hinein und ließ ihren Bruder an die Decke starrend zurück. Vor der Türöffnung zum Wohnzimmer hielt sie einen Augenblick inne und beobachtete Sigurd, Harald und Max, die nahe am Kamin standen und deren Gesichter im Widerschein der Flammen garstig verzerrt aussahen, lauschte einige Sekunden dem hitzigen Wortwechsel, immer wieder dieselben Wörter … Nrrwgn … unsere verdammte PFLICHT … Der König, verflucht noch eins, der KÖnig … Diedeutschensindunserefreunde … Gwissen … Vaaatrland … Zur Tat … TAT … Eidsvoll, Scheiße nochmal … DOvre, zum Henker … Eeeehre … Kng HAAkon!! Für Rita hörte »Tat« sich an wie »tot«, und das war nun also der Zeitpunkt, als sie zu dem Schwert aus Toledo hinaufschielte und ernsthaft darüber nachsann, ob die flache Klinge sich dazu verwenden ließe, gewissen Leuten eins auf den Allerwertesten zu verpassen. Stattdessen aber wandte sie sich dem Garten zu, und genau in dem Moment, als sie im Fensterglas ihrem eigenen Gesicht begegnete, spürte sie, wie aller Optimismus aus ihr entwich. Sogar in dem dunklen Glas konnte sie die Falten sehen. Die Zeit. Der Teufel soll sie holen, die galoppierende Zeit. Als sie noch jung war, wollte sie nach China reisen, hatte aber nur die Hälfte des Weges geschafft. Ihre Karriere war ins Stocken geraten. Die Kinder machten Probleme, alle drei hatten ihr eigenes Bündel zu tragen. Das große, prächtige Haus verfiel um sie herum. Noch nicht einmal eine Ente konnte sie braten. Obendrein war sie betrunken und hatte die Kontrolle verloren. Obwohl Albert es nicht laut aussprach, wusste sie, was er meinte: Sie war eine Verliererin.

      Oh, wie sie sich auf diese Party gefreut hatte. Jetzt wollte sie nur noch allein sein und mit einer Tasse Darjeeling in dem tiefen Ohrensessel sitzen. Sie öffnete die Tür und trat hinaus auf die Terrasse. Mmm, was für eine Erleichterung. Eine Abendluft, die augenblicklich die Sinne schärfte. Sie entdeckte frische Spuren in dem nicht sonderlich tiefen Schnee, sah sie weiter den Garten hinab verschwinden. Sie machte sich nicht die Mühe, Schuhe für draußen anzuziehen, folgte den Fußabdrücken, von denen sie annahm, dass sie von Maud stammten und die bis zu dem kleinen Abgrund hinunterführten. Sie kam an der riesigen Eiche vorbei, im Winter noch schöner, ohne Blätter und mit Plattformen versehen, die von Kindern, auch von ihr, in verschiedenen Höhen in den Baum gebaut worden waren. Die Temperatur war gegen null gesunken. Der Himmel war wolken- und mondlos und voller Sterne.

      Sie entdecke Maud auf der Mauereinfriedung, balancierend wie ein kleines Mädchen, nicht wie eine erwachsene Frau im Abendkleid. Bei dem Geräusch von Ritas Schritten wandte sie sich um. »Pass auf, da geht es steil runter«, sagte Rita, sie sagte es ruhig, wollte ihre Angst verbergen. Maud bog ihren schlanken Körper durch und beugte sich hintüber. Rita hatte den Eindruck, dass das für sie ein Spiel war, vielleicht mit dem Schicksal, dass sie vielleicht nichts dagegen hätte zu fallen und sich, mit ein bisschen Pech, das Genick zu brechen.

      »Hast du geweint?«, fragte Rita. »Ist irgendwas?«