Jan Kjaerstad

Femina erecta


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dass jetzt jeden Tag das große Chaos ausbrechen konnte. Es war der 9. April 1940, und Harald Keller wurde, noch buchstäblicher als andere Norweger, von einem historischen Wendepunkt im Bett überrascht. Im Laufe einiger frenetischer Stunden sollte er ein warmes Bett mit einer schlafenden Frau darin gegen eine verschneite Böschung und ein Maschinengewehr im Anschlag tauschen.

      Ein kurzes Frühstück, ein kurzer, leicht angestrengter Austausch von Phrasen, ein kurzer pflichtschuldiger Kuss, dann eilte er hinaus. Vergangenen Abend noch war sie ein Gast gewesen, eine Frau, die ihn angestarrt, ihm Blicke zugeworfen hatte, die ihm nur zu gut bekannt waren, und nach der Sperrstunde war er mit zu ihr nach Hause gegangen. Sie war jung, gutaussehend, Witwe. Vielleicht hatte sie ihm auch ein wenig leidgetan. Sie war Künstlerin. Vielleicht eine mit Zukunft, vielleicht auch nicht. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich an ihn rangemacht hatte, aber erst am vergangenen Abend hatte er nachgegeben. Er war nicht stolz darauf, und es war erst das zweite Mal, dass er sich auf so eine Geschichte eingelassen hatte. Fast wie zum Trost hatte er bei dieser gebieterischen, selbstsicheren Frau Zuflucht gesucht, womöglich konnte er durch sie dieses ganze Schlamassel mit Maud vergessen. Nach der missglückten Feier bei Mutter war er noch stärker in eine Art Gleichgültigkeit hineingeschlittert, hatte den Zufall regieren lassen. Das lange Schlafen war nicht nur auf Erschöpfung zurückzuführen, sondern ebenso sehr auf die Schwermut, die über ihn hereingebrochen war. Er wollte in Schlaf fallen, erst durch einen Wangenkuss von Maud wieder geweckt werden.

      Es war später Vormittag, und als er auf die Kongens gate hinaustrat und sein kleines Zimmer in der Pilestredet ansteuerte, merkte er, dass etwas anders war. Niemand lief schreiend umher, aber irgendetwas hatte sich verändert. Dann: Fliegergeräusche. Er schaute nach oben, und da kamen sie, hoch oben, nicht im Gleitflug, sondern im Sturzflug auf die Festung Akershus hinab. Sechs Flieger. Englische? Nein, es mussten deutsche sein. In einem dieser unverständlichen Seitenäste des Denkens kam es ihm in den Sinn, dass Sigurd gewusst hätte, um welche Flugzeugtypen es sich handelte, Messerschmitt, Heinkel oder Stuka, wie sie genannt wurden. Zuerst drei, dann noch drei, begleitet von einem infernalischen Heulen. Harald sah, er sah, zwei der Bomben durch die Luft fliegen. Ein kreischender Ton, abgelöst von einem gewaltigen Dröhnen, und noch einem. Sogar dort, wo er stand, konnte er den Luftdruck wie einen kräftigen Ruck im Körper spüren, und von dem Gebäude direkt hinter ihm fielen Dachziegel herunter. Vom Festungsplatz aus stieg Rauch in den Himmel. Eine der Bomben musste dort eingeschlagen haben. Aufgeschreckte Pferde galoppierten aus dem Stall, eines davon rutschte auf dem Kopfsteinpflaster aus und ging hässlich zu Boden. Harald musste sich an die Wand stützen, den Mauerverputz mit den Fingern befühlen. Es war, als wäre er in einer anderen Welt aufgewacht, in eine andere Welt hinausgetreten. An einen Ort, an dem – unmöglich zu fassen – Krieg herrschte. Er hielt einen älteren Mann auf der Straße an, packte ihn regelrecht am Jackenaufschlag. Was passierte hier? Da erfuhr er, dass die Deutschen Norwegen angegriffen hatten, nicht nur Oslo, sondern mehrere Küstenstädte. Der Mann, der über Haralds aufgeregte Ungläubigkeit erschrocken wirkte, teilte ihm mit, dass er es im Radio gehört habe.

      Die Zeit ist aus den Fugen geraten, dachte Harald. Was mache ich jetzt?

      Am Abend zuvor, direkt bevor sie das Theatercafeén verlassen hatten, war der Fliegeralarm mit seinem heiseren Geheul losgegangen. Weil der Alarm ständig zu hören war, und stets grundlos, hatten sie davon keine Notiz genommen. Es war eine kalte Aprilnacht und sie waren umschlungen durch verdunkelte Straßen geschlendert – auch das war zur Gewohnheit geworden, um Mitternacht wurde der Strom abgedreht. In der Wohnung der Frau hatten sie Kerzen angezündet und sich unter die Bettdecken gelegt. Er war in einer seltsam willenlosen Stimmung gewesen, hatte sich einfach treiben lassen in einem Spiel, bei dem sie leidenschaftlich die Führung übernommen hatte. Sie waren spät eingeschlafen, vielleicht hatte er mitten in der Nacht noch einmal Sirenen gehört, vielleicht sogar Flugzeuge frühmorgens, es konnte ein Traum gewesen sein, er hatte eine vage Erinnerung daran, dass die Frau, wie hieß sie nochmal, Wenche, gefragt hatte, ob sie das Radio aufdrehen solle, und dass er ein Nein gemurmelt hatte, das sei bloß eine Übung, Scheiße, wieso konnten sie nicht aufhören, die Leute mit diesen falschen Alarmen zu quälen. Aber jetzt? Echte Flieger und echte Bomben. Er begann zu laufen. Diese verdammten Nazischweine versuchten, Akershus zu zerstören! Das Erste, woran er dachte, war, dass er vor knapp zwei Monaten zusammen mit Maud dort gestanden hatte, direkt neben dem Festungsplatz. An einem Februartag bei leichtem Schneetreiben waren sie neben dem Haupteingang stehen geblieben und hatten sich über Tolstois Roman Anna Karenina unterhalten. Harald war krank vor Verliebtheit gewesen, und mit Schneeflocken in den Wimpern hatte Maud ihn mit einem intensiven Blick bedacht und erzählt, wie schockiert sie gewesen sei über die Stelle, wo Wronskij, kurz nachdem er endlich mit Anna vereint war und sie nach Italien reisten, sagte, dass er doch nicht glücklich sei. Das war es, was Harald am allermeisten mit Zorn erfüllte: Sie hatten die Stelle bombardiert, wo Maud Evensen mit Schneeflocken in den Wimpern gestanden und über die Liebe gesprochen hatte.

      Er rennt am Parlamentsgebäude vorbei, erreicht die Karl Johan. Niemand scheint von Panik ergriffen, alles sieht aus wie immer, Menschen und Autos auf den Straßen. Was soll das? Die Deutschen werfen Bomben über der Festung ab, über Mauds wunderschönen Fußabdrücken, und trotzdem haben alle Läden geöffnet und die Bürger der Stadt spazieren bedächtig umher. Hatte der Mann in der Kongens gate sich geirrt? Nein, Harald hatte die Flieger selbst gesehen, das Dröhnen der Bomben mit eigenen Ohren gehört. Die zertrümmern die Akershus-Festung, zum Henker! Er sieht mehrere junge Männer herumstehen. Warum eilen sie nicht zu ihren Treffpunkten? Er läuft zum Ausstellungsfenster des Morgenbladet, um den Aushang mit den neuesten Nachrichten zu lesen. Die Deutschen marschieren den Drammensveien entlang auf die Stadt zu, steht dort. Er muss den Satz noch einmal lesen, weigert sich zu glauben, dass das wahr sein kann.

      In seinem Zimmer am unteren Ende der Pilestredet setzte er sich hin und dachte nach. Er hatte bei seiner Wirtin geklopft, die einen unbeirrten Eindruck machte, aber alles bestätigen konnte. Die Deutschen hatten Norwegen angegriffen. Auch sie hatte es im Radio gehört. Er hatte sie gebeten, das Telefon benutzen zu dürfen, um seine Mutter in Lysaker anzurufen. Mutter wusste immer Rat. Aber es war kein Freizeichen gekommen. Daraufhin hatte er die Wirtin gefragt, ob sie das Radio einschalten könne. Doch ausgerechnet da hatte es keine Sondersendung gegeben, nur Musik, langsame, sinnlose Musik.

      Wie wir es vor uns sehen, oder vor uns zu sehen versuchen, könnte er wieder hinausgegangen sein und sich in den Straßen herumgetrieben haben, wobei er vor Aufregung vermutlich vergessen hatte, den Mantel überzuziehen. An einer Ecke der Akersgata standen drei Männer seines Alters, die in den Himmel hinaufzeigten, und Harald hörte sie darüber sprechen, dass ein deutscher Flieger die Flugabwehr auf dem Dach des Redaktionshauses der Tidens Tegn unter Beschuss genommen hatte. »Was tun wir?«, fragte Harald. »Viel können wir wohl nicht tun«, sagte ein kleiner Hagerer. Ob kein Befehl zur allgemeinen Mobilmachung ausgegeben worden sei, wollte Harald wissen. Ob die Regierung denn nicht den Krieg erklärt habe? Aus den Gesichtern der anderen war abzulesen, dass auch sie im Unklaren waren. Harald hopste beinahe vor Ungeduld. Wieso nutzte die Militärführung nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel; warum ertönten keine Sirenen, warum erklangen keine Kirchenglocken, warum waren nicht überall Plakate angeschlagen? »Wisst ihr, wo ihr antreten sollt?«, fragte Harald stattdessen. Die anderen wussten nichts von einem Plan, irgendwo antreten zu müssen, es gab keine eindeutigen Befehle. »Bringt ja doch nix«, sagte einer. »Mein Mobilmachungsstützpunkt ist jedenfalls die Akershus-Festung«, sagte Harald. »Viel Spaß auch«, entgegnete der Hagere. »Hab gerade gehört, dort stehen schon die Deutschen. Beim Parlament auch. Ein einziges Chaos. Wir können einen Dreck tun.« Er bot Harald eine Zigarette an, die er annahm, die aber zu Boden fiel. Er blickte auf seine Hand hinunter und sah, dass er zitterte, vor Wut zitterte.

      Sie hatten die Stelle bombardiert, wo Maud noch vor kurzem mit Schnee in den Wimpern gestanden hatte, und keiner dachte daran, auch nur einen Finger zu rühren.

      Harald kehrte in sein Zimmer zurück. Er hatte sich – stolz und lautstark – als Kriegsgegner ausgegeben. Schön und gut. Aber jetzt, inmitten der Katastrophe, von der er nie geglaubt hatte, dass sie eintreten würde, von dem Moment an, als er die Bomben niedergehen sah, da ihm zu Bewusstsein kam, dass die Deutschen imstande waren, alles zu morden, was ihm lieb war, wurde er von einer Wut erfüllt, die irgendwie alles veränderte. Nein, nicht von Wut. Von