Dann war sie wieder da. Maud. Mauds Wimpern. Mauds Hütte tief im Waldinneren. Bald drei Wochen war es her, dass er dort vor dem Kamin gesessen war und Shakespeare zitiert hatte, und dann … Der bloße Gedanke daran schmerzte. Er hatte es niemandem erzählt, auch Sigurd nicht, hatte nicht einmal erwähnt, dass er dort gewesen war, dass er Samstag dann doch noch zur Hütte aufgebrochen war. Du liebe Güte, wie er es bereute. Er hätte alles darum gegeben, diesen Tag noch einmal erleben zu dürfen. Auch bei Mutters alberner Geburtstagsfeier hatte er keine Gelegenheit gefunden, sich mit Maud unter vier Augen zu unterhalten. Eigentlich hatte es ihn überrascht, dass sie überhaupt dagewesen war. Oder war sie nur deshalb gekommen, weil sie seine Mutter bewunderte? Maud redete oft von »Rita Bohre«, als ob sie ein Symbol wäre; sie sprach, und das mit erstaunlichem Enthusiasmus, über alles, was seine Mutter erreicht hatte, was das für jüngere Frauen bedeutete. Im Stillen hatte er sich darüber geärgert, weil er befürchtete, im Schatten seiner Mutter zu stehen. Schon am Tag nach der Feier hatte er sich geschworen, Maud zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wolle, hatte sich ausgemalt, wie er sie in das im obersten Stock des neuen, tempelähnlichen Folketeater-Gebäudes gelegene Restaurant Skansen ausführte, wie er ein paar Worte über die Aussicht verlor und sie gleichzeitig um Vergebung bat. Vielleicht konnten sie hinterher tanzen. Und danach dann … Es hätte ein Abend werden sollen, an dem sich alles entschied, an dem alle Karten auf den Tisch gelegt wurden. Und wenn er schlicht und einfach um ihre Hand anhielte?
Stattdessen sitzt er nun hier, dem Mond näher als dem Tanzparkett des Stratos, näher an Sirius als an Mutters Villa voll mit Gemälden und Bachs Musik und Teppichen aus Isfahan und dem ganzen unverbindlichen Gefasel, das man nach einem erlesenem Mahl und jeder Menge guten Weins vor dem Kamin von sich gab. Hinter einer Waffe mit eingelegtem Gurt für 250 Schuss sitzt er im Schnee, bereit, jeden uniformierten Deutschen zu töten, der auch nur seine Nasenspitze auf der anderen Seite des Flusses herausstreckt. Er ertappt sich dabei, wie ihm der Mund offen steht vor dieser Spannbreite, dieser Fülle an Möglichkeiten, die in einem Menschen verborgen lagen.
Maud. War sie, neben all dem anderen, der Grund dafür, dass er jetzt hier war? Seine Schuldgefühle?
Er fror, sogar mit seiner eigenen Mütze unter der Feldhaube und einem Pulli unter der Lodenjacke. Auch einen Schal hätte er noch vertragen können. Er saß in der Stellung zusammen mit Geir, dem Gruppenkommandantstellvertreter, der für das richtige Einsetzen des Patronengurts zuständig war. Geir hatte noch nicht einmal die Rekrutenausbildung absolviert, hatte aber an der freiwilligen militärischen Schulung teilgenommen, die direkt nach Weihnachten abgehalten worden war. Er stammte aus Råde, und im Gegensatz zu den anderen ruchlosen Feiglingen, denen er in Oslo begegnet war, hatte er sich hierher begeben, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre. Beide waren sie wieder hungrig. War der Nachschubweg aus Askim zusammengebrochen? Harald fantasierte von dem Essen seiner Mutter, dem Essen seiner Kindheit. Sie war vielleicht keine große Köchin, aber so lange er lebte, wäre ihm ihr Essen das liebste, Lammsteaks und Koteletts, Würstchen und Frikadellen, gekochter Dorsch, gebratene Makrelen. Erbsensuppe. Beim bloßen Gedanken an Mutters Erbsensuppe mit Fleisch grub sich ihm ein Loch in den Bauch.
Der Abend wurde lang. Noch länger die Nacht. Wo blieben denn nun die verhassten Deutschen, die sein zerfurchtes, wettergepeitschtes, geliebtes Land zu besudeln gedachten? Er fror, versuchte es mit Bewegung. Inzwischen musste es Minusgrade haben. Er nickte ein, bekam aber nichtsdestoweniger mit, dass um Mitternacht herum Verstärkung eintraf, mehrere Vorgesetzte, noch mehr Maschinengewehre, die Befehle wanderten von Mund zu Mund, sie mussten inzwischen über hundert Mann sein, aber noch immer fehlten ihnen wichtige Waffen – Maschinenpistolen, Handgranaten, Minenwerfer. Unten im Haus des Hauptmanns legte Harald sich für eine Stunde auf der Strohmatratze aufs Ohr, bevor er wieder in die Stellung hinaufkletterte. Endlich wurde ein wenig Verpflegung herbeitransportiert, Lapskaus diesmal. Himmlisch. Etwas, das auch seine Mutter gekocht hatte. Und das sie auch hin und wieder in der Kikutstua gegessen hatten. In Gedanken schickte Harald einen Dank an die Mädchen in Askim, die diese Mahlzeit zubereitet hatten. Die ganze restliche Nacht verbrachte er fast unablässig damit, auf die andere Seite hinüberzuspähen. Kurz sah er den Himmel aufblitzen, einen Halbmond, schob den Gedanken an eine Sichel, den Tod, aber beiseite. Mehrmals nickte er ein und fiel mit der Nase auf das Maschinengewehr, Waffengeruch stahl sich in einen undeutlichen Traum.
Frühmorgens erwachte er mit einem Schlag. Busse, vollbeladen mit Deutschen, waren auf dem Weg. Er stand auf, schlug die Arme übereinander, um sich warm zu halten. Der Fernsprecher unten beim Hauptmann bekam noch eine letzte Meldung, als die Deutschen die Beobachtungsposten in Spydeberg passierten. Wenn die Busse oben rechts auf der anderen Flussseite aus der Kurve herauskamen, mussten sie vor Erreichen der Brücke hundert Meter neben einer steil abfallenden Felswand entlangfahren, die ganze Strecke seitlich zu den Stellungen, die 150 bis 200 Meter entfernt versteckt auf der Askimer Seite lagen. Wie Zielschießen, dachte Harald.
Er ließ sich auf den Sitz hinter dem Maschinengewehr fallen und legte die Hände an den Griff. Unmöglich, das Herzklopfen loszuwerden. Doch der Anblick der schmalen Straße, die auf der anderen Seite an der Klippenwand entlang freigesprengt worden war, machte ihm Mut. Oslo, diese Scheißstadt mit ihren handlungsunfähigen Krämern, mochte verloren sein. Das Gold Norwegens war die Natur. Die wilde, unwegsame Natur. Die vielen Berge, Fjorde, Wälder. Es stimmte, was Onkel Albert auf Mutters Party gesagt hatte: Norwegen war eine riesige, uneinnehmbare Festung. Man schaffte es kaum, Eisenbahnen in diesem Land zu bauen. Sowohl der Vater als auch der Großvater hatten abends an Haralds und Sigurds Bettkante gesessen und ihnen von den Herausforderungen beim Bau der Bergensbane erzählt, von Tunneln durch Berge, Brücken über schwindelerregende Schluchten, von Schneestürmen, die über die Ebene fegten. Jede fremde Macht, die dieses Land zu okkupieren versuchte, würde sehr bald erfahren, wie unmöglich es war, sich über einen längeren Zeitraum hier festzukrallen.
Die Sinne aufs Äußerste angespannt, fühlte er sich plötzlich mit einer Hypersensibilität ausgestattet, wie ein Tier. Es erinnerte ihn an das Versteckspiel seiner Kindheit und an die Zeit seines sexuellen Erwachens, als er die Mädchen riechen, durch ihre Kleidung hindurchsehen, ihr Atmen hören konnte; als ein Kuss wie ein langes Gespräch schmeckte und eine Hautberührung ihm elektrische Stöße versetzte.
Maud.
Alles war still. Eine gespenstische Stille. Einige Singvögel saßen unterhalb im Gebüsch, aber ihr Gesang war nicht zu hören. Nicht einmal das Geräusch des ersten Busses hörte er, sah nur etwas Gelbes überdeutlich im Schneematsch auf der Straße zum Vorschein kommen und so um die Kurve biegen, dass dessen gesamte Längsseite sichtbar wurde. Ein Schøyen-Bus. Einer dieser Busse, die er früher täglich gesehen hatte, die jetzt aber voll waren mit Deutschen. Mit Feinden. Er zielte, hatte die gelbe Metallfläche vor dem Korn und das Korn stabil in der Kimme. Der Bus verlangsamte die Fahrt. Der Fahrer musste die Rundhölzer entdeckt haben, die direkt vor der Brücke den Weg versperrten. Mehrere Deutsche sprangen heraus. Harald und die anderen hatten Befehl, so lange mit dem Schießen zu warten, bis sich so viele Busse wie möglich auf der Strecke zwischen Kurve und Brücke befanden. Dann knatterte es. Die Stellung rechts von ihnen, die den Deutschen am nächsten lag, hatte nicht länger zuwarten können. Der zweite Bus kam in der Kurve in Sicht, hielt aber an. Und jetzt ging der Krach erst richtig los. Harald konnte leere Patronenhülsen unter der Waffe in den Schnee rattern hören. Er wartete, dass die deutschen Soldaten aus den Bussen herausströmten und das Feuer erwiderten, aber es kam niemand zum Vorschein. Ein strenger Befehl ließ sie schließlich das Feuer einstellen. Erst jetzt nahm er den strengen Geruch nach Pulvergas wahr. Oder nach Tod. Nach einer Wirklichkeit, die jenseits von dieser lag. Er spürte einen Druck in den Ohren und ein Zittern in den Gliedern, als wäre ihm ein Aufputschmittel in die Venen gepumpt worden. Von der anderen Seite her war Motorendröhnen zu hören, der zweite Bus setzte zurück und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Jetzt wussten die Deutschen dahinter Bescheid, sie würden die Taktik ändern. Trotzdem jubilierte er innerlich. Was für ein Triumph. Hier lagen sie, einige wenige Männer, und konnten es mit einem ganzen Heer aufnehmen. Er blickte zu dem durchlöcherten Bus auf der anderen Seite, dessen Scheiben geborsten waren. Alle Soldaten, sowohl die draußen als auch die drinnen, mussten tot sein. Er fühlte nichts. Völlig ruhig dachte er: So müssen wir kämpfen. So müssen wir den hochnäsigen Eindringling niederringen.
Immerhin