befreienden Knall, doch nichts geschah. Zwischen den beiden obersten Hölzern der Deckung guckte er zur Brücke hinunter. Ein Soldat machte verzweifelte Gesten in Richtung des Hauptmanns. Das elektrische Zündsystem musste versagt haben. Danach gingen rasch Befehle zwischen den Stellungen hin und her, und während sie das Gebiet bestrichen, in dem die Deutschen lagen oder noch auftauchen konnten, lief einer der Feldwebel – wie verdammt heldenhaft!, hatte Harald noch Zeit zu denken – zur Brückenmitte und sprang in den Schacht hinunter, wo es ihm gelang, die Reservelunte von Hand zu zünden, und nicht weniger wichtig: wieder herauszuklettern und zurückzukehren, bevor die Ladung detonierte. Der Boden zitterte von der Explosion, und Harald vernahm Geirs Jubelrufe, irgendwie mehr aus Stolz als vor Freude. Vor seinem geistigen Auge sah Harald die vielen Brücken, die dieser Tage in Norwegen zerstört würden. Die Deutschen würden nirgendwohin kommen. Sprengt die Tunnel und Brücken, und der Feind ist chancenlos! Er war kurz davor, einen Hurraruf auszustoßen, verbiss es sich aber, denn durch das Guckloch sah er, wie die Brücke angehoben wurde, die Betondecke die Form eines Propellers annahm und wieder auf den starken mittleren Brückenpfeiler zurückfiel. Die Fahrbahn war schief und wellenförmig, aber leider weiterhin passierbar – an dieser Stelle fügt es sich übrigens gut, unserer N20-Assistenengruppe ein Lob auszusprechen, denn obwohl einst viertausend Bücher über den Krieg in Norwegen erschienen sein sollen – offenbar war die norwegische Bevölkerung unersättlich nach neuen Versionen dieser Erzählung –, und uns heute lediglich Fragmente zur Verfügung stehen, ist es der Gruppe dennoch gelungen, in diesen Büchern sowie einer Reihe anderer obskurer Quellen Details aufzuspüren, die, so weit wir das beurteilen können, eine zuverlässige Rekonstruktion der hier geschilderten Kampfhandlungen ermöglicht.
Jetzt hieß es abwarten. Ohnehin konnte Harald nicht mehr tun, als Kühlwasser nachzufüllen und die Waffe zu kontrollieren, bevor das Chaos ausbrach; Deutsche tauchten in dem bewaldeten Kurvenabschnitt auf, einige nahmen die norwegischen Stellungen unter Beschuss, andere versuchten, den zugefrorenen Fluss zu überqueren. Während Geir den Munitionsgurt hielt, feuerte Harald kurze Salven ab, konzentrierte sich auf die Soldaten, die bis ans andere Ufer gelangt waren. Gleichzeitig musste die Aufforderung erfolgt sein, den Staudamm von Solberg zu öffnen, denn durch das herabflutende Wasser wurde das Eis aufgebrochen. Jene wagemutigen Deutschen, die über die Eisschollen zu springen versuchten, wurden von den am nächsten zum Ufer positionierten Norwegern niedergeschossen. Bald war der ganze Angriff abgewehrt.
Stille. Verdächtige Stille.
Nicht aber im Kopf.
Es musste der malträtierte Bus gewesen sein, der seine Gedanken auf etwas umleitete, das er am ersten Tag in Askim gesehen hatte. Eine Lokomotive war aus Mysen herangeschafft worden und stand jetzt am ersten Gleis in der Bahnstation Askim, damit sie, falls die Deutschen mit der Eisenbahn, mit dem Transportzug aus Oslo kämen, dagegengefahren werden konnte. Das brachte seine Gedanken auf Otto Keller, seinen Vater.
Harald war seinem Vater sehr nahegestanden, weshalb es ihn umso schwerer getroffen hatte, als seine Eltern die Unerhörtheit begingen, sich scheiden zu lassen, eine Seltenheit damals. Im Gegensatz zu Sigurd und Bjørg hatte er den Nachnamen seines Vaters behalten, und im Gegensatz zu seinem Bruder hatte er ihn sowohl in der Halvdan Svartes gate als auch in seinem Büro besucht – auch deshalb vielleicht, weil er ihn als ein Rätsel betrachtete. Mindestens einmal die Woche war Harald bei seinem Vater gewesen, doch wenn er nach Hause gegangen war, hatte er stets gedacht: Ich kenne ihn nicht.
Otto Keller war als Ingenieur in den Thune-Werkstätten in Skøyen angestellt, in den riesigen, zwischen Drammensveien und der Eisenbahnstrecke gelegenen Hallen. Besonders in seiner Kindheit hatte Harald es spannend gefunden, mit seinem Vater dort umherzustreifen und den Arbeitern zuzusehen, die gerade mit der Herstellung von Teilen beschäftigt waren, aus denen später Turbinen oder Lokomotiven entstehen sollten. Am allerliebsten jedoch saß Harald mit einem Blatt Papier im Büro und zeichnete, während sein Vater etwas weiter weg vor riesigen gezeichneten Plänen saß, die Harald nie in Zusammenhang zu bringen vermochte mit dem, was in den Hallen vor sich ging. Anfang der 30er-Jahre hatte sein Vater mit der Arbeit an der Konstruktion eines Lokomotiventyps begonnen, der größer und stärker sein sollte als alles bis dahin in Norwegen Gesehene. Harald durfte sich die puzzleähnlichen Zeichnungen ansehen, die er zwar schön fand, bei denen er sich aber nie vorstellen konnte, wie das, was auf ihnen dargestellt war, in Wirklichkeit aussehen würde.
Eines Abends, nachdem sie in der Halvdan Svartes gate gemeinsam gegessen hatten, nahm sein Vater ihn mit runter zum Ostbahnhof. Harald war 14 Jahre alt. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sein Vater. Das war typisch für ihn, er sagte nie viel. Als Harald noch kleiner war, hatten sie oft zusammen Dinge im Garten oder an Bächen gebaut, Wasserräder oder kleine Brücken aus Kleinholz und Bindfäden, und nur zwischendurch hatte sein Vater etwas gesagt oder erklärt. Die Scheidung seiner Eltern war für Harald ein Rätsel. Eines Tages war seine Mutter mit den Kindern einfach nach Lysaker gezogen, und sein Vater war allein in der Halvdan Svartes gate zurückgeblieben. Wenn Harald später eine Andeutung in diese Richtung gemacht hatte, war der Vater nur noch schweigsamer geworden. An diesem Abend allerdings war er ungewohnt aufgeregt, ging leichten Schritts durch den Haupteingang des stattlichen Bahnhofsgebäudes, bei dessen Ausbau Haralds Großvater ganz zu Anfang seiner Karriere, als Angestellter in Georg Andreas Bulls Architekturbüro, mitgewirkt hatte.
Vor einem der ganz hinten gelegenen Bahnsteige stellte der Vater sich auf. »Was machen wir hier?«, fragte Harald. »Wart nur ab«, sagte der Vater und deutete hinauf zu den schönen, gusseisernen Gewölben, als wolle er etwas über die Ingenieurskunst äußern. Eine Viertelstunde vielleicht standen sie dort, blickten zu den rußigen Glasdächern hinauf, beobachteten die Tauben und die wenigen Fahrgäste auf den anderen Bahnsteigen. Dann warf der Vater einen Blick auf die Uhr und lächelte Harald zu. »Jetzt«, sagte er und nickte in Richtung des Stadtteils Gamlebyen. Zuerst konnte Harald in dem Halbdunkel nichts als Rauch erkennen. Allmählich aber stieg aus dem Dampf die Front einer Lokomotive empor, ein riesiges Biest. Die Schienen begannen zu singen, oder zumindest klang es für Harald wie ein Singen, eine dunkle Melodie. In seiner Fantasie sah er ein tobendes Elefantenmännchen auf sich zulaufen, doch bald darauf bäumte sich die Lokomotive zu etwas noch Größerem, noch Gewaltigerem auf, einer schwarzen Wand prustender Rohkraft, und noch gewaltiger wurde es, als sie schließlich abbremste und Harald das Fuhrwerk auch von der Seite sah, begleitet von einem ohrenbetäubenden Quietschen und dem Geräusch der Stempel, während der Lokführer gleichzeitig noch an der Pfeife zog. Vater zu Ehren, dachte Harald.
»Die Dovregubben«, sagte der Vater, als spräche er wahrhaftig von einem Troll. »Die erste von vielen, die wir ausliefern werden«, sagte er. »150 Tonnen, sofern wir das Gewicht des Tenders dazurechnen.«
Natürlich hatte Harald davon gehört, jedoch war es unmöglich für ihn, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem, was er auf dem Schreibtisch seines Vaters gesehen hatte, diesem ganzen Gerede über »Treibraddurchmesser« und ein »zweiachsiges Drehgestell mit Helmholtz-Lenkgestell«, und dem schwarzen, mächtigen Monster, diesem, ja, diesem kriechenden Troll, der da vor ihm auf den Gleisen stand und förmlich in den Stahlmuskeln bebte. 22 Meter lang, mit Rauchschirmen wie zitternde Elefantenohren. Sein Vater und der Heizer beschauten sich das Triebwerk. Wieder: Vaters Euphorie. Danach durfte Harald mit in den Führerstand hochkommen, wo der Vater zu erklären, zu deuten und zu lachen anfing und währenddessen seinem Sohn liebevoll die Schulter drückte, ein Moment, an den Harald sich immer als einen Wendepunkt erinnern sollte, denn als er im Führerstand dieser gigantischen Maschine stand, war es ihm nicht nur, als ob diese großen, ungeheuer komplizierten Zeichnungen, die er in den Thune-Werkstätten gesehen hatte, zu etwas Dreidimensionalem, zu etwas Sinnlichem wurden, sondern als ob auch sein Vater, dieses unverständliche Wesen, immer greifbarer und handfester vor ihm zutage träte, zu einem Menschen wurde, der sein Leben etwas Schöpferischem widmen, der die Menschheit voranbringen wollte.
Verhielt es sich so vielleicht auch mit dem Krieg?, dachte Harald fröstelnd zwischen den Bäumen bei der Fossum-Brücke. Nur mit umgekehrten Vorzeichen? Der Unterschied, ob man bloß darüber las, Sigurds Erzählungen über verschiedene Schlachten hörte, oder ob man selbst die Sturzbomber sah, sie heulend auf Akershus herabfallen hörte, die Explosionen, den Erdboden zittern spürte oder hier auf dem Sitz hinter einem Maschinengewehr saß, das heiße Metall und das Öl roch,