fühlte sich losgelöst. Er empfand eine Art Glück in dieser umwälzenden Situation, erkannte darin auch eine goldene Gelegenheit, sich selbst zu überraschen. Sein kampfeslustiger Bruder lag bestimmt schon irgendwo draußen bei Lysaker und ballerte Deutsche nieder, die gerade in Fornebu aus ihren Flugzeugen herauswatschelten. Sofern Sigurd sich nicht längst am Gjelleråsen eingefunden hatte und dort in Stellung gegangen war.
Die Deutschen wollten in Norwegen einfallen? Darauf konnten sie warten, bis sie schwarz wurden.
Die ganze nächste Stunde lief Harald auf Hochtouren, er suchte Freizeitkleidung heraus, packte einen Rucksack und befüllte ihn mit Dingen, die man für mehrere Tage und Nächte im Freien benötigte, Essen, Besteck, Toilettenartikel, Handtücher, Schlafsack. Er wickelte einen neuen, dünnen Verband um seine linke Handfläche; der Schnitt war weniger tief, als er angenommen hatte, aber er lächelte, wie über die Vorstellung, dass er bereits verwundet sei. Von einem Schwert! Aus der Abstellkammer holte er noch schnell Skier und Stöcke und begab sich im Laufschritt in Richtung Storgata, fühlte sich stärker denn je, in Hochstimmung, unbesiegbar. Die Sonne schien jetzt, ein Wetter, das mit der Situation kollidierte. An mehreren Stellen sah er Ansammlungen junger Männer an den Straßenecken. »Wir müssen kämpfen!«, rief er. »Das bringt nichts«, lautete die immer wiederkehrende Antwort. »Sie sind überall.« Er kam am Youngstorget vorbei und forderte ein paar Jugendliche auf, sich ihm anzuschließen. »Wir haben die Waffen niedergelegt!«, sagte einer. »Gerade haben wir gehört, dass Oslo sich den Deutschen ergeben hat.« Harald dachte: Ich nicht! Niemals! Ich werde in den Treppenhäusern kämpfen, in den Straßen, den Bergen, ich werde im Wald kämpfen, ich werde niemals aufgeben! Verdammt nochmal, nie! Auf einmal ergab solches Denken einen Sinn. Eigentlich gab es keine Alternative. Er schämte sich der Worte, die er bei Mutters idiotischer Feier heruntergeleiert hatte. Es war alles ganz einfach.
In der Storgata springt er auf einen Pritschenwagen, auf dessen Ladefläche zwei junge Männer mit Rucksack sitzen. Sie geben ihm ein Zeichen, dieselbe Entschlossenheit im Blick wie er selbst, voll zielgerichteter Wut. Er nimmt an, dass sie in nördliche Richtung fahren, den Trondheimsveien hinauf, doch der Wagen biegt in die Brugata ein, auf den Mosseveien zu. Er bittet sie anzuhalten, worauf die beiden erklären, in Askim seien Streitkräfte stationiert, und in einem neuerlichen Gefühl des Losgelöstseins und zugleich voller Elan, sich Leuten anzuschließen, die zu kämpfen bereit sind, denkt Harald: Genauso gut kann ich dort mithelfen, die verdammten Deutschen aufzuhalten. Langsam holpern sie die Stadt hinaus, auf den Straßen herrscht Gedränge. Die ganze Zeit über halten sie Ausschau nach deutschen Truppen, doch an der matschigen Straße entlang sehen sie nichts als verwirrte norwegische Bürger, von denen keiner diese drei Männer mit aufmunternden Zurufen bedenkt, Männer, die bereit sind, in den Kampf zu ziehen gegen die Nazigewalt, die so bösartig eine schlafende Nation überrumpelt hat.
*
Achtundvierzig Stunden später, am Donnerstag, lag Harald Keller an der Brücke bei Fossum in Stellung, dort, wo die aus der Hauptstadt führende Bundesstraße direkt vor Askim den Fluss Glomma kreuzte. Falls die Deutschen im Sinn hätten, die Flanken zu sichern und zugleich die Festungsanlagen auszuschalten – und jede Kriegskunst sprach dafür – würden sie diesen Weg entlangkommen. Zumindest ein paar Bataillone.
Viel war geschehen in den letzten Tagen. Oslo war erobert worden, ohne jeden Widerstand – eine Schande. Wie war das möglich? Harald und die anderen hatten von Quislings Radioansprache Wind bekommen, sie hatten gehört, der König und die Regierung seien auf der Flucht nach Norden, sie hatten von Oscarsborg gehört und dem Kreuzer Blücher. Wo zur Hölle war die britische Marine?, dachte Harald. Waren die nicht, vollbeladen mit Minen, vor der gesamten Küste stationiert? Wie war es den deutschen Schiffen gelungen, sich an der vermeintlich stärksten Kriegsflotte der Welt vorbeizuschummeln? Die Westmächte mussten doch von dem Angriff gewusst haben, ganz sicher war bereits Tage zuvor von Geheimagenten eine erhöhte Schiffs- und Truppenkonzentration gemeldet worden. Es war jedenfalls noch nicht zu spät, dachte Harald. Er sah vor sich, wie Zehntausende andere norwegische Männer rundum in Norwegens weiten Landen sich an ihren Mobilmachungsstützpunkten eingefunden hatten und jetzt, so wie er, in Bereitschaft waren, den Finger am Abzug, darauf vorbereitet, strategisch wichtige Ziele auf Biegen und Brechen zu verteidigen.
Harald und die zwei anderen vom Pritschenwagen waren bis zum Lehrerzimmer der Askimbyen-Schule gelangt, wo sie eingetragen worden waren und ihnen Kleidung, Ausrüstung und ein Krag-Jørgensen-Gewehr samt Munition ausgehändigt wurde. Alle hatten eine kurze Einschulung oder Auffrischung im Waffengebrauch erhalten. Harald wurde der Maschinengewehr-Einheit zugeteilt. Bei der ganzen sinnlosen Exerziererei am Truppenübungsplatz hatte es ihm immer vor der Vorstellung gegraut, Teil einer Masse zu sein, die marschierend ihr Land verteidigte. Und hier war er nun, zwar nicht marschierend, aber doch volle Fahrt voraus in den Krieg, mit jeder Faser seines Körpers zum Kämpfen bereit.
In der Schule hatten sie Verpflegung bekommen und auch geschlafen, und schon bei Tagesanbruch am Mittwoch waren sie, die dritte Brückengruppe, dreißig Mann und vier Vorgesetzte, in zwei Bussen zur Brücke bei Fossum gefahren worden. Es war bewölkt, kein Niederschlag, kalt. Harald, einer der wenigen, der über Erfahrung am schweren Maschinengewehr Browning M/29 verfügte, wurde als Schütze in einer der drei Maschinengewehr-Einheiten eingesetzt; sie waren zu viert in jeder Gruppe, hätten mehr sein sollen, aber vier waren genug. Die meiste Zeit des Tages verging mit Verschanzen. Sie standen knietief im Schnee, in Schluchten und Gräben sanken sie bis zu den Hüften ein. Schussfelder wurden ausgehoben. Auf dem Hang bei Askim, fast auf gleicher Höhe mit der Brücke, fand Haralds Gruppe eine kleine Mulde, die gute Deckung bot. An diesem Tag fanden sie sogar ein bisschen Schlaf, ein paar Stunden auf einer Strohmatratze in dem Haus unten am Fluss, in dem der Kapitän seinen Kommandoplatz hatte, sogar zu essen bekamen sie, aus einer Feldküche, sein eigenes Lunchpaket war längst aufgebraucht, aufgeteilt auf die anderen, und Harald ertappte sich dabei, dass es ihm Bewunderung abrang, wie durchgeplant alles war, wie reibungslos alles zu funktionieren schien, er war von Optimismus erfüllt, von dem Glauben, der bloße Anblick dieses Willens zum Widerstand überall in Norwegen, dieser gutgeölten Maschinerie, würde die Deutschen so entmutigen, dass sie sich höflich verneigten, auf dem Absatz kehrtmachten und die ganze Invasion abbliesen.
Am Donnerstag stand wieder Drill am Programm, Gewehrreinigung, Grundlagentraining – die ohne militärische Ausbildung wussten noch nicht einmal, wie man Patronen in eine Krag-Jørgensen einlegte oder wie das Nachladen funktionierte. Haralds Team trainierte am Maschinengewehr, Schlagbolzenwechsel und Kühlwassertausch, um ein Überhitzen der Waffe zu verhindern. Sie befanden sich in fortwährender Anspannung. Kamen die Deutschen? Weil der Fähnrich nun doch der Meinung war, die Stellung von Haralds Team liege zu weit unten, mussten sie das Browning M/29 wieder auseinanderbauen, Waffe, Rohrwiege und Lafette, Munitionskästen und die gesamte Ausrüstung höher den Hang hinauf verlegen. Sie hatten schwer zu tragen, der Schnee war brüchig und sie sanken ständig bis zu den Knien ein, endlich aber hatten sie das Maschinengewehr an neuer Stelle montiert, ein neues Schussfeld freigeräumt und zur Tarnung Nadelbaumzweige herangeschafft.
Unter ihnen lag die Glomma, deren festes Eis von einem Ufer zum anderen reichte, sowohl ober- als auch unterhalb der Brücke. Bei Ankunft der Deutschen sollte die Brücke gesprengt werden. In der Sprengkammer wartete die Ladung bereits auf ihren Einsatz. Harald saß fröstelnd in Stellung. Diese Konstruktion eines Brückenpfeilers mit Sprengkammern brachte ihn ins Stutzen. Beim Bau einer Brücke gleichzeitig die Möglichkeit ihrer Zerstörung mit einbauen! Als ob die Zivilisation jederzeit die Barbarei miteinrechnen müsse.
Die Dämmerung brach herein. Er betrachtete die Farben im Schnee, der hier wesentlich höher lag als in der Stadt. Auf einmal musste er an seinen Grundschullehrer denken, der ihnen gezeigt hatte, wie man beim Malen einer Winterlandschaft den Schnee mit blauen Schatten versehen konnte, wie schön, wie naturgetreu es dann wirkte. In Askim hatte er die Skier ablegen müssen, konnte sie nicht gebrauchen. Idiotisch. Er bereute es, dass er nicht lieber rauf nach Maridalen gegangen und dort in den Wald hinein verduftet war. Er hätte die Nordmarka durchstreifen können, diese Gegend, die er so gut kannte. Kilometerweit dichter Wald, in dem man sich verstecken konnte. Die jungen Männer mussten sich jetzt zu Dutzenden dort eingefunden haben, in jeder Hütte, jeder Waldbaracke, unter jeder Hügelkuppe. Ein perfekter Ort als Basis für den Widerstand. Harald fantasierte