eitlen Bedenken verbannt, kalt, ruhig, zugleich halb bewusstlos vor Raserei, hat er sich in Windeseile wieder auf den Sitz des Maschinengewehrs begeben; die Deutschen beginnen, übermütig zu werden, zeigen sich jetzt vermehrt in voller Größe oben auf dem Bergrücken; er feuert eine Salve ab, worauf einer wie ein geschlachtetes Tier zu Boden geht. Harald genießt den Anblick, ein Genuss, wie er ihn nie zuvor empfunden hat, und in den nächsten Sekunden erschießt er noch mehr Deutsche, von denen einer den Abhang hinunterpoltert, schlaff wie eine Stoffpuppe, Schnee löst sich, ein berauschender Anblick, noch ein Treffer, noch eine Gestalt sackt zusammen, als hätte man die Luft aus ihr entweichen lassen, fällt herunter, schnellt durch die Luft, als sie auf halbem Weg auf einem Felsen auftrifft, Haralds Hände zittern auf dem Doppelgriff, während das Maschinengewehr weiter Kugeln ausspuckt, das Triumphgefühl, das er dabei empfindet, ist einem Wahnsinn ähnlich, hier wird der Gerechtigkeit genüge getan, denkt er, Auge um Auge, Zahn um Zahn; in Dreiteufelsnamen, so kommt doch, ihr verdammten Deutschen! In einem parallelen Gedanken sieht er vor sich, wie er in wenigen Wochen bei der Rückkehr König Haakons als Ehrenwache am Ostbahnhof Aufstellung nimmt – der König in einer Eisenbahn, gezogen von der Dovregubben – und die Leute sich gegenseitig zuflüstern: »Das ist Harald Keller, der Kriegsheld!«
Um ein Überhitzen der Waffe zu verhindern und Munition zu sparen, die immer knapper wird, feuert er nur kurze Salven. Der deutsche Beschuss, das Pfeifen der Kugeln, wird weniger. Keiner ist über den Fluss gekommen. Harald lässt den Kopf sinken, sieht sich um, und sein Blick trifft auf all das Rot im Schnee vor dem benachbarten Posten, Spuren von Alf, der von zwei Vorgesetzten auf einen Mantel gelegt und weggeschleift worden war.
Der Geruch von Schießpulver, heißem Metall, Blut, Tod.
Den Rest des Tages herrschte Stellungskrieg. Die Deutschen sorgten dafür, dass sie sich nicht rühren konnten, eröffneten bei der kleinsten Bewegung das Feuer. Du bohrst in der Nase, und in der nächsten Sekunde ertönt ein Pfff über deinem Kopf und an dem Baum hinter dir verschwindet ein Zweig. Wie viele waren es? Der Hauptmann schätzte sie auf tausend, unmöglich zu wissen.
Erst jetzt spürte Harald den Hunger. Ein saftiges Beefsteak! Er hatte seit dem Vorabend nichts gegessen. In der Tasche hatte er noch immer den harten Brotkanten stecken, er saugte mehr daran, als dass er kaute, während er die Gerichte aus der Speisekarte vor sich sah, die er tagtäglich im Theatercaféen serviert hatte. »Hummerpastete« … »Tournedos mit Champignons« … »Schneehuhn mit Kompott« … »Pfirsich Melba« …
Einige Sekunden lang – in seiner Vorstellung war dies unmittelbar ein schwarzer Moment – musste er daran denken, dass er hier lag und auf Menschen schoss, die er bis vor wenigen Wochen noch als seine Gäste betrachtet und mit einem Lächeln bedient hätte, wenn sie als Touristen nach Oslo gekommen wären. Deshalb liebte er das Theatercaféen. Es war ein Treffpunkt. Nicht nur ausländische Reisende kamen dorthin, sondern ebenso Diplomaten und Journalisten aus allen Ländern. Dazu Schriftsteller, Künstler, die norwegische Geisteselite. Es war, als befände man sich mitten in einem Dynamo, einem Energiezentrum.
Bücher. Eines Abends hatte er ein Gespräch mitgehört, bei dem ein Gast den anderen am Tisch Sitzenden etwas über den Wissenschaftler Albert Einstein erzählt hatte. Vor einigen Jahren habe Einstein dem Psychoanalytiker Sigmund Freud einen offenen Brief geschrieben, der später, zusammen mit Freuds Antwort, als kleines Büchlein erschienen sei. Während der Diskussion hatte der Gast mit dem Buch herumgewedelt wie mit einer weißen Flagge, und als sie gegangen waren, hatte er es Harald überreicht, wie als Geschenk für einen Gleichgesinnten – und Harald hatte es gelesen.
»Was hat Einstein geschrieben?«, fragte Maud später, ausgerechnet an jenem Tag, als sie bei der Festung Akershus spazieren gingen und leichte Schneeflocken die Luft erfüllten.
»Er fragt, ob es möglich ist, die Menschheit von dem Unglück zu befreien, das der Krieg mit sich bringt«, sagte Harald. »Er hat den Traum, dass die Macht der Ideen einst stärker sein wird als die Macht der Gewalt. Die Kultur stärker als die Natur, der Gerechtigkeitsgedanke stärker als die Wirtschaftsinteressen.«
»Das wird wohl ein Traum bleiben«, sagte sie. »Die irrationalen Seiten des Menschen werden immer stärker sein als die rationalen. Leider.« Schweigend spazierten sie weiter, doch dann blieb sie plötzlich mitten am Festungsplatz stehen und senkte die Augenlider: »Und jetzt lebt Einstein nicht mehr in Deutschland und Freud nicht mehr in Österreich«, sagte sie. »Beide mussten fliehen.«
Es wunderte Harald, woher sie das wusste. Er selbst war sich nicht darüber im Klaren gewesen, dass Freud im Exil lebte, trotz seiner Begeisterung für Wien, die Hauptstadt der Kaffeehäuser.
Aber seine Mutter hatte schon recht, er las viele belletristische Werke. Er kaufte oft Bücher im Alhambra, dem Antiquariat, das sein Großvater mütterlicherseits in der Kirkegata gegründet hatte. Einmal hatte er den Pfarrer Konrad Steen, einen Kindheitsfreund seiner Mutter, dort getroffen. Harald hatte sich immer gefragt, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen, ob es etwas mehr war als nur Freundschaft. Jedenfalls schrieb Konrad Steen in den Zeitungen oft über Literatur, Harald hatte den Eindruck, dass er genauso viele Bücher gelesen haben musste wie Sigurd Hoel, der es im Übrigen vorzog, im Restaurant Annen Etage des Hotel Continental zu sitzen, auch wenn Harald ihn mitunter in der »Künstlerecke« des Theatercaféen hatte vorbeischauen sehen. Im Alhambra hatten Harald und Konrad ihre Ansichten über Ein Flüchtling kreuzt seine Spur von Aksel Sandemose ausgetauscht, ein Buch, das Harald mit Neugier gelesen hatte, nachdem ein älterer Kellner behauptet hatte, er sei dabei gewesen, als Sandemose im Theatercaféen das Romanmanuskript, einen ganzen Koffer voll, an jenen Verleger übergeben hatte, der das Buch schließlich herausbrachte, nachdem es von den beiden Großverlagen Gyldendal und Aschehoug abgelehnt worden war. »Das macht den Roman ja nur noch besser«, hatte Konrad lachend angemerkt, als Harald ihm die Anekdote erzählt hatte. Davor hatte Harald schon mit Maud über Sandemoses Buch diskutiert, in ihrer Hütte in der Nordmarka, aber ihr gefiel der Roman nicht. Sie waren darüber in Streit geraten, und es hatte sich herausgestellt, dass sie den Roman deshalb nicht mochte, weil sie dessen Verfasser nicht leiden konnte. »Ein unsympathischer Mensch. Ich lese keine Romane von amoralischen Schweinigeln, egal wie gut ihre Bücher sind«, hatte sie gesagt und dabei langsam geblinzelt, wie immer, wenn sie etwas sehr ernst nahm. Harald hatte an die vielen Male gedacht, als er Sandemoses ungehobeltes Benehmen im Theatercaféen mitangesehen hatte, seine unaufhörliche Jagd nach Frauen, es aber nicht erwähnt, weil er ihr nicht recht geben, sondern ihr lieber von Ronald Fangen erzählen wollte, einem Schriftsteller, den er oft bedient hatte und von dem er wusste, dass sie ihn mochte.
»Grüß deine Mutter«, hatte Konrad Steen beim Gehen gesagt, begleitet vom Läuten der kleinen Türglocke.
Harald fiel ein, dass er vergessen hatte, die Grüße auszurichten.
Im Café Agora, dem Lokal, das Harald eröffnen und zu einem natürlichen Versammlungsort für junge wissbegierige Menschen machen wollte, sollte es nicht nur Zeitungen geben, in- und ausländische, sondern auch eine Bücherwand. Es sollte ein Café werden, in dem es Bücher gab, die in so vielen verschiedenen Sprachen geschrieben waren, wie sie von den Besuchern gesprochen wurden. Alles, was man dazu dann noch brauchte, war ein Silbertablett mit einer Tasse Kaffee und einem Glas Wasser. Begeisterte Gespräche. Junge Männer, oder selbstbewusste Frauen wie Maud, mit Koffern voller brillanter Ideen. Nach seiner Ansicht, und darin stimmte ihm sogar seine Mutter zu, hatte die Aufklärungszeit in den Kaffeehäusern ihren Anfang genommen.
Warum also lag er hier und schoss auf Deutsche?
Was für ein Kontrast: In dem einen Augenblick servierst du Kaffee, im nächsten tödliches Metall.
An seinen Großvater, einen deutschen Architekten, der Eisenbahnstationen in Norwegen entworfen hatte, konnte er sich nur dunkel erinnern. An sein seltsames Norwegisch, sein Zäpfchen-R. An ein Haus, oder den Teil eines Hauses, in Homansbyen. Was ihm am deutlichsten im Gedächtnis geblieben war, waren die Figuren, die der Großvater aus einem weißen Taschentuch basteln konnte. Einen Hasen, der über den Schnee hoppelte. Und an seine Zeichenkünste. Ein strenger Mann, der zum Kind wurde, sobald er zu zeichnen anfing.
Harald fingerte am Maschinengewehr herum. Warum dachte er jetzt an das alles? Obwohl