Jan Kjaerstad

Femina erecta


Скачать книгу

des Flusses. Einer, der einfach nur zeichnen wollte, Bahnhofsgebäude, Kaffeehäuser, der aber gezwungen war, ein Gewehr zu bedienen.

      So durfte man unmöglich denken. Er musste den Zorn aufrechterhalten.

      Die letzten vierundzwanzig Stunden hatte er sich nach Kaffee gesehnt. Mehr als nach etwas zu essen. Er hätte wer weiß was gegeben für eine Tasse Kaffee. Wieder schweiften seine Gedanken ab. Er sah seine Großmutter vor sich, eine alte Dame, die Østerdal-Dialekt sprach und in ihrer Küche in Homansbyen mit einer Mühle, einem Holzwürfel mit goldener Kuppel, Kaffee mahlte, und während die Kurbel sich gleichmäßig im Kreis drehte und die Bohnen knirschten, breitete sich der Kaffeegeruch im Zimmer aus. Sein Vater, Otto Keller, hatte immer begeistert davon gesprochen, dass seine Verwandtschaft mütterlicherseits aus Østerdalen stammte; über mehrere Generationen hatte der Wald für ihren Lebensunterhalt gesorgt, auch durch die Jagd. »Und hier sitze ich nun«, hatte Haralds Vater gesagt, »und zeichne Pläne für Lokomotiven! Was für ein Werdegang!« Und ich, ja, ich bin ins Jägerdasein zurückgekehrt, dachte Harald. Mit dem Unterschied, dass ich auf Menschen schieße. Er verspürte ein unbändiges Verlangen nach Kaffee. Wieso lagen sie hier und ballerten sich gegenseitig nieder? Es fehlte nicht viel, und er wäre aufgestanden und hätte gerufen: Ich gebe eine Tasse Kaffee aus! Lasst uns die Waffen niederlegen! Lasst uns Kaffee trinken, reden, lasst uns dieser Bestialität ein Ende setzen!

      Unmöglich. Den Zorn aufrechterhalten.

      Endlich. Er glaubte zuerst, es wäre eine Halluzination, aber es war wirklich: Zwei Männer kamen herangekrochen, einen großen grauen Eimer zwischen sich. Der Nachschubweg, oder zumindest Teile davon, mussten demnach unversehrt geblieben sein. Lang lebe das norwegische Heer! Wenn sie schon kein Essen bekämen, so bekämen sie wenigstens Kaffee. Er nahm ihn begierig entgegen. Dünner, schlechter Kaffee – er hatte nie besseren getrunken. Er schielte zu den anderen, die mit seligen Gesichtsausdrücken ihre Metallbecher zwischen den Händen hielten. Vorläufig blieb ihm nichts anderes, als mit dieser durchkämpften, patronenübersäten Schneelandschaft inmitten von Fichten als seinem Café Agora vorliebzunehmen.

      Als ob das eine das andere bedingte, brachte der Geschmack des Kaffees das Bild eines Buches mit sich. In der Dunkelheit, im Schnee sitzend, sehnte er sich nach einer warmen Stube, einem Kamin, einem bequemen Sessel, einem Buch, vielleicht Anna Karenina – die Stelle, in der dem undankbaren Schwein Wronskij sein Glück, seine Verliebtheit, bereits wieder abhandengekommen ist. Was ihn betraf, hätte er genauso gut hier lesen können, sofern ihnen die Benützung einer Taschenlampe erlaubt gewesen wäre; er konnte überall lesen, viele Bücher hatte er sogar in der Krone der Eiche draußen vor der Villa Bohre gelesen. Maud war genauso. Ernsthaft in sie verliebt hatte er sich, als er sie letzten Sommer in ihrer Hütte beim Lesen beobachtet hatte. Sie hatte ein Buch aus dem kleinen Bücherregal gezogen, sich damit jedoch nicht aufs Sofa begeben, sondern es einfach in dem Regal darunter an eine freie Stelle gelegt und im Stehen gelesen, lange, als ob das, was sie las, ihr jede Regung unmöglich machte. Stunden später war er Zeuge einer weiteren Variante geworden. Nach dem Essen – Forellen, die sie selbst im Teich gefangen hatte, gefüllt mit Zitrone, Mandeln und Dill – hatte sie zunächst den Tisch saubergewischt. Dann ging sie hinaus, um ein paar Waldblumen zu pflücken, die sie in einer Vase auf den Tisch stellte. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, dazu ein kleines Glas Krähenbeeren-Likör, setzte sich an den Tisch und drehte den Stuhl so, dass sie auf das Wasser hinaussehen konnte. Danach schlug sie das bereitliegende Buch auf und las darin, völlig versunken. Nach einigen Minuten drehte sie sich um und entdeckte, dass er sie beobachtete, sicher mit einem verrückt-verliebten Lächeln um den Mund. »Leser können genauso viele Rituale beim Lesen haben wie Schriftsteller beim Schreiben«, sagte sie.

      Maud. Er sehnte sich nach ihr. So sehr, dass sich alles in ihm zusammenzog. Dann wieder dieser Erinnerungsblitz, eine Erinnerung, die er am liebsten vergessen wollte. Der Hüttenausflug, der verhängnisvolle Abend. Er hatte die Hütte verlassen. Hatte unter Fichten gesessen, so wie jetzt bei der Brücke bei Fossum. Mit dem Unterschied, dass er jetzt keine Scham empfand. Denn es war die Scham, die an ihm genagt hatte in dieser Nacht im Kroksogen. Er hatte Jacke und Rucksack geholt, die Skier angelegt und war nach Hause gelaufen, im Mondlicht. Mehrmals war er gestürzt, hätte sich fast verletzt, aber er musste weg, hätte ihren Blick am nächsten Morgen nicht ertragen können.

      Gegen Mitternacht entdeckte er auf einmal mehrere unbekannte Gesichter. Er hörte die leise Stimme des Fähnrichs irgendwo hinter sich, der fragte, ob er abgelöst werden wolle. Harald verneinte. Geir? Auch er verneinte. Sie grinsten einander zu. Etwas Ekstatisches lag in Geirs Augen. Sie waren ein gutes Team. Jetzt mit noch mehr Munitionskästen. Zweieinhalb Tage und Nächte lagen sie jetzt hier, fast ohne Ruhe und Schlaf und in großer Anspannung, und trotzdem wollten sie hierbleiben, als wüssten sie, dass eine entscheidende Schlacht bevorstand. Noch immer dachte Harald keine Sekunde daran, dass er getötet werden könnte, auch daran nicht, wie er, in einer fernen Zukunft, seinen Kindeskindern, die ihm mit großen Augen Fragen stellten, von alldem erzählen würde. Wie die meisten sah er einen Tod in hohem Alter vor sich, und dass man, wenn die Stunde geschlagen hatte, von der Familie, von Freunden umgeben war und einem noch Zeit bliebe, etwas Kluges zu sagen, bevor man den Becher leerte. Wie Sokrates. Ja, wie ein norwegischer Sokrates, Besitzer des berühmten Café Agora.

      Am meisten aber fantasierte er davon, wie er bald wieder seine Hände um Mauds Kopf legte, wie seine Finger sich beim Einschlafen in ihre dunklen Locken wickelten. Und dann musste er wirklich eingeschlafen sein, denn die Stimme des Hauptmanns holte ihn mit einem Schlag wieder zurück, sie ertönte hinter ihnen, aber so leise, dass nur die zwei nächstgelegenen MG-Stellungen sie hörten. Harald bekam nicht alles mit, konnte aber einige aufmunternde Sätze heraushören, zurückhaltende Worte, bei denen ihm, und offenkundig auch Geir, dennoch ein Schauer feierlicher Entschlossenheit über den Rücken lief.

      Wieder die Wut. Der blinde Zorn. Auf der Anhöhe dort drüben lag der Feind, der das Land an sich reißen wollte!

      Kommt nur, dachte er und spürte etwas in sich, das dem vergleichbar sein musste, worüber er in den Knabenbüchern gelesen hatte: Blutdurst. Wieder sah er Alf vor sich, sein malträtiertes Gesicht. Er wollte töten. Töten, töten, töten. Ein Singen im Körper, ein Verlangen nach Blut. Kommt nur! Als die Deutschen kurz darauf Leuchtgranaten abschossen und von der Anhöhe herab ein heftiges Feuergefecht einleiteten, war er nichtsdestoweniger überrumpelt. Die norwegischen Stellungen lagen in Licht gebadet, die des Feindes hingegen konnten sie nicht sehen, sahen nur, dass die Deutschen nicht mehr in ihren Stellungen lagen, sondern in großer Zahl über und unter der Brücke auf sie zukamen. Sogar noch während er das MG langsam von links nach rechts schwenkte, fiel ihm auf, wie durch die in der Luft über ihnen hängenden Leuchtgranaten alles ins Künstliche getaucht wurde und die Landschaft den Anstrich einer Theaterkulisse bekam.

      Wieso befand er sich hier? Auf dieser Bühne? Wieso war er nicht bei Maud?

      Er ist taub, er sieht die Lichtblitze, einen nach dem anderen, aber er hört nichts. Denkt auch nicht nach. Kugeln schnellen an ihm vorbei, wie eine Ahnung nur oder wie ein leichter Geruch nach heißem Metall. Kommt nur! Ich bin unsterblich! Ich weiß, heute Nacht ist das Schicksal auf meiner Seite! Mit vielen Dingen gleichzeitig beschäftigt, bemerkt er, dass die Jungs aus seinem Team im Begriff sind, die Stellung zu verlassen, etwas weiter weg geht ein norwegischer Soldat zu Boden. Ok, hier hatten sie vielleicht verloren, sie mussten zum Rückzug blasen, doch dasselbe galt wohl kaum für alle anderen Einsatzorte, an denen Norweger mit aller Macht ihr Land verteidigten, und wenn die Deutschen dort genauso viele Männer und genauso viel Zeit benötigten wie für das Vordringen über die jämmerliche Brücke bei Fossum, dann waren sie chancenlos. Wieder eine Leuchtgranate. Wie eine gigantische Glühbirne, direkt über ihnen. Wie eine Enthüllung. Die Enthüllung einer Illusion. Und inmitten eines nur halb erhaschten Gedankens, dass er, Harald, Teil einer Erzählung ist, die ihren Platz in den Geschichtsbüchern finden wird, einer Erzählung über Norwegens heldenmutigen Kampf, den machtvollen Widerstand, den dieses Geburtsland der Recken den Deutschen entgegensetzte, wodurch das Nazipack sich gezwungen sah, zu den Schiffen zurückzukehren – irgendwo inmitten dieser Gedankensplitter erkennt Harald, dass ein Gefühl alle anderen in den Hintergrund drängt, und dass dieses Gefühl Angst ist. Eine Angst, die tief in seine Seele hinabführt. Die Angst ist so groß, dass er beinahe die Krag verliert, als er