schlägt etwas in seinem Bein ein und lässt ihn einknicken. Er ist getroffen, kann aber nicht begreifen, dass sich das so anfühlt, es ist, als hätte jemand ihm ein Schwert ins Bein geschlagen. Eine Sense aus iberischem Stahl.
Er schrie vor Schmerz – oder war es Angst? – und sackte zusammen, doch in seinem Kopf tönte die Stimme seiner Mutter: Steh auf!, und er kam wieder auf die Beine, ist ja nur ein Kratzer, dachte er, so viel musste man schon zu opfern bereit sein für einen Sieg. Dann hatte er plötzlich doch Angst, aber gerade die Angst würde ihm dabei helfen, sich hinkend in Sicherheit zu bringen. Er würde verflucht nochmal die Kong-Haakon-Medaille entgegennehmen! Er und Sigurd. Die Bohre-Brüder, die Kriegshelden! Und er musste seiner Mutter noch die Grüße von Konrad Steen ausrichten. Im Sommer würde er mit Maud Blaubeerkuchen in ihrer Hütte im Krokskogen essen. Er feuerte alle fünf Schuss aus dem Magazin gegen Schatten, die vom Fluss kamen, einer davon fiel immerhin; mit steifen Fingern, zitternd vor Angst, pulte er fünf neue Patronen aus einer der Gürteltaschen, legte sie ins Magazin ein und lief, humpelte von der Anhöhe fort. Kugeln schlugen um ihn herum ein, die Deutschen mussten herübergekommen sein, sie waren jetzt ganz in der Nähe, Maschinenpistolensalven ertönten, Harald drehte sich um und schoss mit dem Karabiner, schoss einfach ins Blaue hinein, sah nichts, hatte keine Zeit zum Nachladen, lief einfach, lief aus purer Angst, er hörte deutsche Rufe, er verstand ein bisschen Deutsch, konnte aber trotzdem nicht verstehen, was sie riefen, wusste nicht, ob es ihnen galt oder ob es Befehle an ihre deutschen Landsleute waren, ein heftiges Knallen erklang hinter ihm, die Teufel hatten Handgranaten, Licht flackerte zwischen den Stämmen auf, als wäre ihm ein feuerspeiendes Monster auf den Fersen.
Wusste er, dass er getötet werden würde? Dass er sterben würde? Dass die Dovregubben, das schwarze Ungeheuer, zu guter Letzt doch noch gekommen war, um ihn zu holen? Sich pausenlos umwendend, wie um zu sehen, wer den tödlichen Schuss abgeben würde, lief er fast rückwärts, rutschte im Schnee aus auf der Straße, die nach Askim führte. Er kam am Hauptmann vorbei, erschossen. Harald dachte, dass er sich selbst etwas vorgemacht hatte, seine Angst sagte es ihm. Der ganze Unsinn von wegen Mut. Von wegen Widerstand. Er hätte es machen sollen wie die anderen. Dafür sorgen, dass er am Leben blieb. Seiner Mutter zuliebe. Maud zuliebe. Nicht den Helden spielen, wie er es jetzt tat, ein Held, der sich vor Angst fast in die Hosen machte. Er kniete sich hin, konnte ein paar Patronen einlegen, legte das Gewehr an, sah mehrere Schatten auf sich zulaufen, konnte Helme sehen, erkannte sie als deutsche, er schoss in Panik, keine Schatten fielen, Schusssalven ertönten, und da, da kam sie, er konnte sie auf ihrem Weg beobachten, sah die Kugel auf seine Stirn zufliegen, sah sie in der Luft vor sich anhalten, als wollte sie ihm Zeit geben für einen letzten Gedanken, aber es stimmt nicht, dass in einem letzten dramatischen Augenblick das Leben an einem vorbeizieht, sondern stattdessen bleibt die Zeit stehen, gibt einem Gelegenheit zum Nachdenken, so lange nachzudenken, wie man will, sein ganzes Leben zu durchdenken, jede Sekunde, wenn man das wollte, doch Harald ist müde, ihm fehlt die Kraft dazu, er entdeckt einen Fichtenzweig am Wegesrand, seltsam deutlich in dem Lichtschein der über ihnen hängenden Leuchtgranaten, er sieht die feine Struktur, die mit einer dünnen Frostschicht überzogenen Nadeln; und bevor die Kugel weiter auf seine Stirn zusteuert, klammert er sich, wie im Triumph, in Gedanken an Maud fest, an sie, die das Einzige ist, was ihn jetzt noch kümmert, an seine Liebe zu ihr und daran, wie traurig es ist, ohne Vergebung zu sterben, und dann, fast mit einem Nicken, nimmt er das todbringende Blei entgegen und entschwindet.
MAUD-LAND
Ihr Zentrum in der Welt ist die Hütte, und besonders dann, wenn sie eingeschneit, halb unsichtbar im Gelände liegt. Sie nennt es Maud-Land. Das ganze Waldgebiet der Nordmarka ist Maud-Land.
Es geht auf den Abend zu, und sie sitzt an dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Im Kamin schlagen die Flammen hoch und das Feuer im Küchenofen brennt gut. Die eine Hand am Rand des aufgeschlagenen Buchs, mit der anderen die Teetasse umklammernd – seit sie Rita Bohre kennengelernt hat, trinkt sie wieder mehr Tee –, hält sie ihre Augen nicht auf die Buchseiten gerichtet, sondern auf den verschneiten See, auf die Loipe, die von Heggelia hierherführt. Sie wartet, und obwohl es sich bei dem Buch um den neuen Roman von Thomas Mann handelt, kann sie sich nicht darauf konzentrieren. Sie wartet. Er wird hierherkommen, zu ihr. Sie wartet auf ihn, hier, im Maud-Land.
Sogar in dem Sommer, als beide zu Besuch waren, als sie beide gegeneinander abwog, betrachtete sie sie als Gäste in ihrem Reich, einem Reich, über das sie herrschte, seit sie klein war. Wenn sie in der Hütte im Krokskogen war, kehrte immer auch ihre Kindheit zurück, und besonders deutlich in jenem Sommer, als ihre Sinne durch das Umgebensein von zwei Männern auf eine Weise geweckt wurden, die sie bereits vergessen gehabt hatte, Erinnerungen an die Jahre, in denen sie gemeinsam mit ihrem Vater zum Wandern hierhergekommen war. Alles, was sie über den Wald wusste, hatte ihr Vater ihr beigebracht. Im Frühling hatte er ihr gezeigt, wie man Weidenflöten schnitzte, so dass man die »Morgenstimmung« von Grieg darauf spielen konnte, er hatte sie die Namen von Tieren und Vögeln, Pflanzen und Insekten gelehrt, ihr die Biberspuren gezeigt, sie dazu angeregt, stehenzubleiben und dem Hacken des Dreizehenspechts zu lauschen, hatte in den Wipfel einer Kiefer auf der anderen Seites des Sees gedeutet, wo ein Fischadler sein Nest hatte, oder gegen einen morschen Stamm getreten, damit sie die Pilze, die Larven, das wimmelnde Leben darin studieren konnte, während sie gleichzeitig eine Zweigestreifte Quelljungfer bei ihrem Flug tief über dem Wasser einer Bachmündung beobachteten, Cordulegaster boltonii, wie er zu erzählen wusste, ein Name, den sie bis heute im Gedächtnis behalten hat. »Benannt nach James Bolton, einem Insektensammler aus dem 18. Jahrhundert. Stell dir vor, keiner weiß mehr, wer du bist, aber dein Name wird von einer Libelle weitergetragen.«
An den Wochenenden, die sie in der Hütte verbrachte, streifte sie für gewöhnlich allein in der Gegend umher. Sie mochte es, sich auf einen Stein zu setzen in dem Glauben, alles sei still, nur um dann festzustellen, dass die Stille aus einer Unzahl von Geräuschen bestand, dass es vor Leben überall nur so brodelte, raschelte, kroch, schnurrte und summte; dort konnte sie sitzen, je nach Jahreszeit, und zusehen, wie alles in Veränderung war, junge Bäume schossen aus der Erde empor, Bruchholz lag morschend auf dem Boden. Am allerliebsten mochte sie den Wald, nachdem es geregnet hatte, den Wohlgeruch, der dann in der Luft lag, wenn Fichtenzweige ihr die Schultern mit Regenwasser benetzten oder die Regentropfen auf einem Spinnennetz den Eindruck in ihr erweckten, sie stünde vor einer kleinen Galaxie.
Der Wald war eine andere Welt, vor allem durch das Moos, die dicken, grünen Teppiche, die mitunter große Flächen bedeckten. Deshalb, glaubte sie, zog sie sich immer grün an, wenn sie eine Waldwanderung unternahm, wie um eins zu werden mit ihrer Umgebung. Nur weniges konnte sie so in seinen Bann ziehen wie das Sonnenlicht, das auf feuchtes, grellgrünes Moos fiel, für sie war es wie ein eigener Planet; dann konnte es geschehen, dass sie sich hinunterbeugen musste, um zu sehen, ob etwas dort unten lebte, winzige Lebewesen. Bryophyta, dachte sie. Ich werde diesen Moosplaneten Bryophyta nennen. Ihr Vater, ein Bewunderer von Linné, hatte ihr diesen Namen beigebracht, genau wie viele andere lateinische Namen. Allgemeinbildung nannte er das.
Maud Evensen war in Jevnaker aufgewachsen. Ihr Vater war Büroleiter bei der Glasfabrik Hadeland und behauptete, Mauds Haar sei bei ihrer Geburt dunkel gewesen, hätte aber, weil sie sich so oft vor glühender Glasmasse aufgehalten habe, einen rötlichen Schimmer angenommen. Und es stimmte, als Kind hatte sie häufig das Werk besucht, die Glashütte mit dem Schmelzofen, wo die Glasbläser ihr dabei halfen, kleine Gegenstände zu formen, nicht selten Tiere, die sie im Wald gesehen hatte. Sie war stolz auf seinen Arbeitsplatz, stolz, wenn sie den Zug in die Stadt hinein nahmen und sie zusammen mit ihrer Mutter oder dem Vater den Kaufhäusern einen Besuch abstattete, Steen & Strøm, und besonders das Christiania Glasmagasin, die Abteilungen mit den glitzernden Schalen und Karaffen, Schüsseln und Vasen. Ihr Vater hatte ihr vorgeschlagen, sie solle in der Glasfabrik zu arbeiten beginnen, aber sie wollte etwas anderes werden. »Was denn?«, fragte er. »Ich will eine Elfin sein«, sagte sie. »Eine Lichtelfin.« »Du bist eine Elfin«, entgegnete er daraufhin, »aber das kannst du nicht dein ganzes Leben lang bleiben.« »Dann will ich Waldhüterin werden.«
Sie hatte mehrere Waldhüter getroffen, hatte in ihren kleinen Kojen gesessen und sich gedacht, das müsse die schönste Arbeit der Welt sein.
Ende März. Es ist das Jahr 1940. Maud sitzt am Tisch, vor sich den neuen Roman von Thomas