etwas ablesen könnte. Und da Paul – obwohl doch alle wissen, daß er der größte Herzensbrecher des Senders ist – diskret mit seinen Eroberungen umgeht, muß ich auch nicht befürchten, öffentlich vorgeführt zu werden.
Auf dem Weg zurück durch die labyrinthartigen Flure bis zum Ausland versuche ich mir selbst einzureden, daß ich überreagiere. Er hat mich weder angelogen, noch hat er mir etwas versprochen, und ich habe weder gefragt noch etwas gefordert. Dennoch sitzt eine eisige Enttäuschung in meinen Eingeweiden, was mich wiederum wütend macht.
Den ganzen Sommer über bis zu diesem Augenblick habe ich – ob eingestanden oder nicht – von ihm geträumt. Davon, zu ihm zurückzukommen. Aber Paul ist kein junger Prinz, der durch die Dornenhecke bricht und Dornröschen aus der Verzauberung befreit. Ich habe mich geirrt. Paul Weber ist Paul Weber – ein Mann, vor dem jede Mutter ihre Tochter warnen sollte. Schade, denn sie konnte ihn wirklich gut leiden. Den Auserwählten. Den Einzigen. Den Mann.
Sonst bin ich nicht so. Ich bin nicht so eine, die sich gleich nach dem ersten Kuß im Lilly-Modell-Hochzeitskleid sieht. Ganz im Gegenteil, ich habe noch nie so weit gedacht. Doch, einmal habe ich das. Aber da war ich so jung und wurde so enttäuscht, daß das Psychoanalyse für Doofe ist, warum ich seitdem ein gebranntes Kind bin. Das muß mir keine Quacksalberseele erklären, und ich denke, ich habe gelernt, mit der Wunde zu leben. Zumindest habe ich gelernt, mich soweit zu schützen, daß nur äußerst selten Salz in die Wunde gelangen kann.
Als ich aber schließlich im Auslandsflur angekommen bin, brennt sie so stark, daß ich schnurstracks in mein Büro trample und die Tür hinter mir schließe. Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und stütze die Ellbogen auf die ausgediente IBM-Schreibmaschine, während ich auf die roten Vogelbeerbäume im Hinterhof schaue. Dann versuche ich die Situation kalt und ruhig zu analysieren, wie ich es immer tue. Und das einzige, was dabei herauskommt, nachdem ich den Baum nur noch wie durch einen Nebel sehe, ist, daß ich mich selbst nicht mehr wiedererkenne. Ich habe mich verändert.
Dem Putsch die Schuld zu geben, wäre zu pathetisch, obwohl jeder, der so einen Umsturz miterlebt hat, sich einbildet, nie wieder der gleiche zu sein. Nein, wenn ich ehrlich sein soll, kann ich alles nicht beantworten, weder warum, seit wann noch wie. Widerstrebend muß ich erkennen, daß ich irgendwo in mir einen vagen Traum von – believe it or not – Liebe hege. Was ich damit anfangen soll, weiß ich nicht. Noch weniger, was ich mit Paul anfangen soll. Abgesehen von dem Nächstliegenden – ihn zu exekutieren.
Als es an die Tür klopft, zucke ich zusammen und sage mit klopfendem Herzen »Ja?«
»Störe ich?« Es ist Ras, der Auslandsredakteur, der seinen kahlen Kopf hereinsteckt.
»Nein, nein!« versichere ich hektisch, als wäre ich auf frischer Tat ertappt worden, obwohl ich bezweifle, daß seine Sensibilität weit genug entwickelt ist, um zu begreifen, in was für einem Sturm ich mich gerade befinde. Wäre sie es, hätte er sicher nicht drei Exfrauen, sieben Wochenendkinder und katastrophale Finanzen. »Setz dich!«
»Wie geht’s?« fragt er mit einem Blick auf meinen sonderbar leeren Schreibtisch.
»Gut. Ich akklimatisiere mich«, lächle ich beruhigend.
»Bist du müde?« fragt er.
Ich zucke mit den Achseln.
»Vielleicht eine Spur.«
»Wie wäre es mit Urlaub? Hast du noch welchen zu kriegen?« Er lehnt sich im Stuhl zurück, stopft seine Pfeife. Signalisiert ›viel Zeit‹.
»Noch zwei Wochen, aber der General hat mich gebeten, sie noch aufzusparen, bis die Situation sich stabilisiert hat.«
»Ja«, nickt Ras. »Er setzt große Stücke auf dich. Aber paß trotzdem auf, daß du nicht aufgerieben wirst.«
Unsere Blicke treffen sich bei der gleichen Gedankenassoziation, und wir lächeln beide verständnisvoll.
»Und zwar in jeder Beziehung!« Ras lächelt und zeigt dann auf den Bildschirm, der immer noch die CNN-Übertragung aus dem Parlament zeigt. »Darum kümmert sich Ferdinand, wenn du dich um die Republiken kümmern könntest. Visnews will gegen fünf neue Bilder aus Georgien und dem Baltikum haben.«
»Okay«, nicke ich und greife nach einem Kugelschreiber.
»Bist du inzwischen mit deiner Akklimatisation fertig«, fragt Ras, »oder soll ich die Tür wieder schließen?«
»Nein, laß sie nur offen!« sage ich und greife nach einem Stapel Tickermeldungen.
Wie immer am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub oder einer Reise geht alles langsamer. Ich brauche viel Energie für Routinearbeiten, die normalerweise eben nur Routinearbeiten sind, für die ich mich jetzt jedoch richtig anstrengen muß. Aber alle sind nett und hilfsbereit, und ob ich nun ins Bänderarchiv, zur Graphik oder zu den Textern komme, die mal wieder einen russischkundigen Übersetzer brauchen, überall scheine ich mit neuem Respekt betrachtet zu werden. Und alle wollen Originaläußerungen direkt von der Quelle haben. Bis ich endlich wieder zurück in meinem Stall bin und bereit, einen Artikel zu schreiben, ist es schon spätnachmittags, und der Redaktionsschluß rückt mit rasender Geschwindigkeit näher.
Irgend jemand hat einen braunen Umschlag auf meinen Schreibtisch gelegt, und wenn ich schlau wäre, würde ich ihn dort liegenlassen. Aber ich reiße ihn auf, als würde mein gesamtes künftiges Schicksal von dem Inhalt abhängen. »Tes, ein spätes Essen heute abend? P.«
»No way!« murmle ich und knülle den Zettel zu einer Kugel zusammen, die ich in den Papierkorb schmeiße. Dann malträtiere ich die Schreibmaschinentastatur, vertippe mich und rege mich darüber auf, daß mein Computer immer noch nicht on line ist, rufe unten an und bestelle Aufnahmezeit in zwanzig Minuten.
Zum Glück ist es Søren, mit dem ich meinen Beitrag redigieren soll. Ein alter Hippie mit Lederweste und Pferdeschwanz, humorvoll und geduldig. Außerdem kann er einfach einen Kommentar gestalten. Was gerade heute Gold wert ist, denn mein eigener Überblick ist, gelinde gesagt, etwas verschleiert. Es ist schon nach sieben, als er mich ins Tonstudio schickt, aber er bleibt gelassen, nichts kann ihn aus der Ruhe bringen, weder die Ermahnungen der Redaktionssekretärin noch meine wiederholten Huster und Versprecher.
»Noch einmal«, sagt er nur. »Wir haben genug Zeit.« Die Nachrichten sind bereits auf Sendung, als wir unseren Beitrag endlich abliefern, ins Sekretariat gehen und ihn uns noch einmal ansehen. Ich kann nicht anders, ich muß mich einfach im Raum umschauen, nach ihm Ausschau halten. Aber er ist nicht da. Dafür jedoch Lea, die den Kopf wegdreht, als ihr Beitrag über den Sudan dran ist.
»Ist das nicht entsetzlich«, murmelt sie und beißt sich auf die Finger.
»Starke Geschichte«, nickt Søren mit soviel sozialer Entrüstung, wie er sympathischerweise noch besitzt.
Mein Beitrag geht unbemerkt durch – falls er kritisiert wird, wird das erst morgen früh bei der Redaktionskonferenz geschehen –, und gleich danach stehe ich auf und packe meine Sachen zusammen.
Als ich in unsere Abteilung komme, sitzt Ras immer noch in seinem Büro. Er telefoniert, beeilt sich jedoch, das ziemlich privat klingende Gespräch zu beenden, und winkt mich zu sich, als ich vorbeigehe.
»Zwei Dinge«, sagt er, als er aufgelegt hat. »Punkt eins: Ich gebe dir morgen unabhängig vom Dienstplan frei. Ich habe genug Leute, und falls etwas passiert, rufe ich dich einfach an. Punkt zwei: Soll ich dich in die Stadt mitnehmen?«
»In die Stadt? Wohnst du nicht in Farum?«
»Ich habe eine Verabredung!« grinst er und schiebt seine Pfeife zwischen die Zähne.
»Na, so was!« kommentiere ich mit einem vielsagenden Blick zum Telefon. Wenn es mir doch auch so ginge.
Obwohl Ras nur zehn Jahre älter ist als ich, hat er mich immer leicht väterlich behandelt. Und als wir in seiner alten Rostlaube, einem alten Postauto und beliebten Thema in den Spottliedern bei der Weihnachtsfeier, in die Stadt fahren, zeigt es sich schnell, daß er auch diesmal ein paar väterliche Worte auf Lager hat. ›Sich nicht aufreiben lassen‹, ›sich nicht auf