Carsten Burhop

Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918


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identisch und etwa 15 Prozent höher als in Großbritannien. In Deutschland trug noch ein weiterer Faktor zur Preiskonvergenz mit dem britischen Niveau bei. Zur Jahrhundertmitte lagen die deutschen Preise erheblich über den britischen, weil die Unternehmensgewinne in Deutschland außergewöhnlich hoch waren. Die amerikanischen Preise lagen dagegen über den britischen, weil die Kosten deutlich höher waren. Um 1850 schwankten die Produktionskosten für eine Tonne britisches Roheisen zwischen 47 und 52 Mark, die Produktionskosten beliefen sich in den Vereinigten Staaten auf 89 Mark und in Deutschland auf 52 bis 53 Mark. Das deutsche Roheisen wäre somit auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig gewesen, wenn die Gewinnmarge geringer gewesen wäre: In Großbritannien betrug der Unterschied zwischen Verkaufspreis und Stückkosten rund 4 Mark je Tonne, in Deutschland hingegen 27 Mark je Tonne. Diese hohe Marge konnte gehalten werden, da der deutsche Zollverein den Markt gegen die ausländische Konkurrenz teilweise abgeschirmt hatte. Erst die erhebliche Kapazitätsausweitung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie während|59◄ ►60| der Gründerjahre und die nahezu gleichzeitig erfolgte Abschaffung der Roheisenimportzölle führten zu einer Reduktion der Preis-Kosten-Marge in Deutschland. Die hohen amerikanischen Kosten lassen sich insbesondere auf die niedrige Energieeffizienz der amerikanischen Hersteller zurückführen: Sie verbrauchten ein Drittel mehr Kohle als die britischen Hersteller und Kohle war in den Vereinigten Staaten wesentlich teurer als in England. In Deutschland war zwar Kohle teurer als in den Vereinigten Staaten, aber die Energieeffizienz war deutlich besser. Insgesamt lagen die Energiekosten in Großbritannien 50 und in Deutschland 25 Prozent unter dem amerikanischen Niveau. Darüber hinaus trugen die hohen Löhne in den Vereinigten Staaten erheblich zu den hohen Kosten bei, denn die Lohnkosten waren dort etwa doppelt so hoch wie in Europa. Auf diese Weise lässt sich rund ein Fünftel des Kostenunterschieds mit dem Lohnkostendifferential erklären. Die vergleichsweise hohen Löhne wiederum führten zur stärkeren Substitution von Arbeit durch Kapital bei amerikanischen Firmen. Neue Rohstoffquellen für amerikanische und deutsche Produzenten trugen dann ab den 1890er Jahren zu sinkenden Kosten in beiden Ländern bei. Die verstärkte Verwendung von eisenreichen Magnetiterzen in Deutschland und Amerika führte gegenüber den in England üblichen Hämatiterzen zu Kosteneinsparungen. Gleichzeitig trugen die hohe Energieeffizienz deutscher Hersteller und die niedrigen Kohlepreise in den Vereinigten Staaten zu den fallenden Kosten bei. Die Lohnkosten in den Vereinigten Staaten blieben jedoch deutlich höher als in Deutschland. Kurzum, um 1910 lagen die mittleren Preise für Vorleistungen und Produktionsfaktoren in Großbritannien und den Vereinigten Staaten etwa gleichauf, in Deutschland 17 Prozent unter dem britischen Niveau. Da gleichzeitig die Gesamtfaktorproduktivität in Deutschland und den Vereinigten Staaten das britische Niveau um 15 Prozent übertraf, beliefen sich die deutschen Stückkosten auf lediglich 72 Prozent des britischen und 80 Prozent des amerikanischen Niveaus.

      Die in Tabelle T7 ausgewiesenen gravierenden Produktivitätsdifferentiale in der Metall erzeugenden Industrie finden sich somit in einer detaillierten Betrachtung nur teilweise wieder. Berechnet man die relative Arbeitsproduktivität eines britischen Arbeiters im Vergleich zu der eines deutschen anhand der zu Kaufkraftparitäten bewerteten Bruttowertschöpfungen, so gelangt man zu einer Rate von 72 Prozent. Verwendet man hingegen die Produktionsmenge, so gelangt man zu einer Rate von 67 Prozent. Diese entspricht im Großen und Ganzen den in Tabelle T7 ausgewiesenen Werten. Für den Vergleich mit den Vereinigten Staaten führen die beiden Methoden zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Die Tonnenproduktivität lag in Amerika bei 120 Prozent des deutschen Niveaus, die Bruttowertschöpfung je Arbeiter allerdings bei 205 Prozent. Dieser Wert wird auch in Tabelle T7 ausgewiesen. Der große Unterschied zwischen den beiden Kennzahlen deutet darauf hin, dass Deutschland und Großbritannien|60◄ ►61| ähnliche Input-Output-Koeffizienten hatten, während die Wertschöpfungsstruktur der amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie davon abwich. Da die Gesamtfaktorproduktivität in Deutschland und den Vereinigten Staaten sehr ähnlich war, dürfte der Vergleich der Bruttowertschöpfungen den Vorsprung der Vereinigten Staaten überzeichnen: Dort waren die Kapitalintensität und damit auch die Kapitalkosten höher als in Deutschland. Ein Nettowertschöpfungsvergleich – und dies wäre die ökonomisch eigentlich relevante Größe – dürfte daher einen geringeren amerikanischen Vorsprung ausweisen.

      Kehren wir von der Branchenebene zurück zur Analyse sektoraler Arbeitsproduktivitätsunterschiede und wenden uns der Landwirtschaft zu. Um 1910 waren in Deutschland und den Vereinigten Staaten rund ein Drittel aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, in Großbritannien hingegen nur 12 Prozent. Die Arbeitsproduktivität der deutschen Landwirtschaft betrug lediglich zwei Drittel der Produktivität in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten. Ein Blick in sektorspezifische Produktivitätsstudien zeigt jedoch, dass die Angaben zur deutsch-britischen komparativen Arbeitsproduktivität stark davon abhängen, ob man die Bruttowertschöpfung oder die physische Produktionsmenge miteinander vergleicht. Nach dem ersten Konzept war die Arbeitsproduktivität in Großbritannien 28 Prozent höher als in Deutschland, nach dem zweiten Konzept jedoch 75 Prozent, sodass der oben genannte Wert von 49 Prozent etwa in der Mitte liegt.109 Des Weiteren hängt das relative Produktivitätsniveau sehr stark von der Definition des Arbeitseinsatzes ab. Dividiert man nämlich die in Deutschland und Großbritannien erzeugte Gütermenge bzw. die erzielte Bruttowertschöpfung durch die Anzahl der männlichen Arbeitskräfte anstatt durch die Anzahl aller Arbeitskräfte (Männer, Frauen und Kinder), dann zeigt sich, dass die deutsche Landwirtschaft um 1910 mindestens ebenso produktiv war wie die britische Landwirtschaft.110 Dieses engere Arbeitskräftekonzept gibt möglicherweise ein präziseres Bild über die tatsächlich geleistete landwirtschaftliche Arbeit, da Kinder und Frauen möglicherweise stärker anderen Tätigkeiten, beispielsweise in der Hausindustrie, nachgingen. Jedoch sind auch bei diesem Vergleich wieder erhebliche Datenprobleme anzutreffen. Insbesondere für Deutschland herrscht Unsicherheit über den Grad der weiblichen Beschäftigung im Agrarsektor, da sich, so die amtlichen Daten des Kaiserlichen Statistischen Amts, die Frauenerwerbsquote in ländlichen Regionen zwischen 1895 und 1907 |61◄ ►62| von unter 30 auf über 50 Prozent erhöht haben soll.111 Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der Fragebogen des Zensus von 1907 – im Gegensatz zum 1895 verwendeten Fragebogen – weitaus präziser war, da er auch Angaben über Familienmitglieder, die durchgängig im Betrieb des Familienvorstandes beschäftigt waren, verlangte. Diese mithelfenden Familienangehörigen wurden in den vor 1907 durchgeführten Berufszählungen offensichtlich nur unzureichend erfasst. Andererseits bedeutet die Erfassung der durchgängig im Betrieb Beschäftigten auch, dass nur vorübergehend oder in Teilzeit Beschäftigte explizit ausgeschlossen wurden. Die Division der Wertschöpfung oder Produktionsmenge durch die Anzahl der männlichen Arbeitskräfte impliziert folglich eine falsche Darstellung des tatsächlichen Arbeitseinsatzes.

      Wie bereits oben ausgeführt, war das niedrigere Verhältnis von bewirtschafteter Fläche je Arbeiter ein Grund für die niedrigere Arbeitsproduktivität in Deutschland. Ein deutscher Erwerbstätiger in der Landwirtschaft hatte um 1910 rund 6,6 Hektar zur Verfügung, ein britischer 11,4 Hektar und ein amerikanischer 44,1 Hektar. Die Produktivität je Hektar war in Deutschland außergewöhnlich hoch und betrug das 2,3-fache der britischen Bodenproduktivität.112 Gerade im Vergleich zu den Vereinigten Staaten kann somit die relativ niedrige Bodenintensität den Rückstand bei der Arbeitsproduktivität erklären. Betrachtet man die Entwicklung in diesen beiden Staaten zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg, so zeigt sich, dass in den Vereinigten Staaten 40 Prozent des Produktionswachstums in der Landwirtschaft auf zusätzlichen Arbeitseinsatz, 31 Prozent auf zusätzlichen Kapitaleinsatz und 29 Prozent auf eine höhere Gesamtfaktorproduktivität zurückgeführt werden können. In Deutschland hingegen können 59 Prozent des Produktionswachstums mit einer gesteigerte Gesamtfaktorproduktivität, allerdings nur 20 bzw. 21 Prozent mit erhöhtem Arbeits- bzw. Kapitaleinsatz begründet werden.113 In allen Länder kann man die gesteigerte Gesamtfaktorproduktivität wiederum mit den Erfolgen des technischen Fortschritts erklären: beispielsweise mit dem Einsatz verbesserter Pflüge oder der zunehmenden Mechanisierung von Sä-, Mäh- und Dreschvorgängen. Diese arbeitssparenden Erfindungen wurden zunächst in Nordamerika und Großbritannien eingesetzt, da dort Arbeitskräfte relativ