Carsten Burhop

Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918


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in diesem Sektor zwischen der Basisperiode und der Bezugsperiode t. Der zweite Teil der Summe, der dynamische Verschiebungseffekt, ergibt sich aus dem Produkt der Änderung der Arbeitsproduktivität in einem Sektor zwischen der Basis- und der Bezugsperiode sowie der Änderung des Beschäftigtenanteils dieses Sektors in diesem Zeitraum. Der dritte Teil der Summe, der intrasektorale Effekt, ergibt sich aus dem Produkt des Beschäftigtenanteils eines Sektors in der Basisperiode und dem Wachstum der Arbeitsproduktivität dieses Sektors zwischen Basis-und Bezugsperiode. Die Anteilsverschiebungsrechnung für die Jahre 1871 bis 1913 ergibt, dass vier Fünftel des Anstiegs der Arbeitsproduktivität in der deutschen Volkswirtschaft auf das Wachstum der Arbeitsproduktivität innerhalb der Sektoren zurückgeführt werden kann. Demgegenüber tragen sowohl der dynamische als auch der statische Verschiebungseffekt jeweils nur ein Zehntel bei. Dies bedeutet, dass die Reallokation von Arbeitskräften von Sektoren mit niedrigem Produktivitätswachstum in Sektoren mit hohem Produktivitätswachstum sowie die Umlenkung von Arbeitskräften von Sektoren mit niedrigem Produktivitätsniveau in Sektoren mit hohem Produktivitätsniveau verhältnismäßig wenig zum Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität beitrugen. Das Produktivitätswachstum innerhalb der Sektoren ist wesentlich wichtiger als der Strukturwandel.

      Neben Verschiebungen der Wirtschaftsstruktur können auch erhöhter Kapitaleinsatz oder die bessere Nutzung von Arbeit und Kapital im Produktionsprozess – »technischer Fortschritt« – das Wirtschaftswachstum positiv bedingen. Zur Berechnung des technischen Fortschritts sind Annahmen über die zugrunde liegende Produktionsfunktion notwendig. Geht man von der neoklassischen Cobb-Douglas-Produktionsfunktion Yt = τt * Atα * Ktβ aus, dann ergibt sich das Sozialprodukt der Periode t (Yt) aus dem Arbeitseinsatz in dieser Periode (At), dem Kapitaleinsatz in dieser Periode (Kt), dem technischen Wissen in dieser Periode (τt) sowie aus zwei zeitinvarianten Parametern der Produktionsfunktion, α und β. Trifft man die beiden zusätzlichen Annahmen, dass α + β = 1 gilt und dass die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nach ihrem jeweiligen Grenzprodukt entlohnt werden, dann entsprechen die Parameter α und β der Lohn- bzw. Kapitaleinkommensquote. Damit sind alle Variablen der Produktionsfunktion mit Ausnahme von τt in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beobachtbar, sodass τt als Residuum ermittelt werden kann. Derjenige Teil des Produktionsanstiegs zwischen Periode t und t-1, der nicht mit Veränderungen des Faktoreinsatzes erklärt werden kann, wird als »technischer Fortschritt« bezeichnet. Das nicht beobachtete Niveau des technischen Wissens wird dazu in der Basisperiode gleich eins gesetzt und mit Hilfe der als Restgröße ermittelten Wachstumsrate des technischen Wissens in der Zeit fortgeschrieben. Mit der Frage nach dem Wachstum der totalen Faktorproduktivität begibt man sich somit|43◄ ►44| in den Raum der kontrafaktischen Geschichtsschreibung, da man eine Antwort auf die Frage sucht, wie hoch das Sozialprodukt in einem Jahr gewesen wäre, hätte man diejenigen Mengen und Qualitäten an Arbeit und Kapital eingesetzt, die man im Vorjahr einsetzte. Somit wird die Differenz zwischen dem beobachteten Sozialprodukt und dem kontrafaktischen Sozialprodukt als technischer Fortschritt bezeichnet. Das kontrafaktische Sozialprodukt selbst wird jedoch nie beobachtet, weshalb die Falsifikation einer Hypothese über das Ausmaß des technischen Fortschritts nicht möglich ist.83 Dieser unbeobachtbaren Residualgröße werden 42 bis 64 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Wachstums sowie 26 bis 38 Prozent des Wachstums der gewerblichen Produktion, 53 Prozent des Wachstums der landwirtschaftliche Produktion und 26 Prozent des Wachstum der Dienstleistungsproduktion zugeschrieben.84

      Abbildung A7 zeigt die Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität für die gesamte Volkswirtschaft und für den gewerblichen Sektor für die Jahre 1875 bis 1913. Es zeigt sich, dass die Gesamtfaktorproduktivität sowohl in der Gesamtwirtschaft als auch im Industriesektor zwar über den gesamten Zeitraum betrachtet um rund 60 bzw. 30 Prozent anstieg, aber am Anfang der Untersuchungsperiode zunächst gefallen war. In der Gesamtwirtschaft wurde erst 1884 wieder das Produktivitätsniveau des Jahres 1875 erreicht, im industriellen Sektor sogar erst 1893.85 Dies kann darauf hindeuten, dass der während des Gründerbooms der frühen 1870er Jahre erstellte Sachkapitalbestand in den folgenden Jahren nicht voll ausgelastet war, was sich negativ auf die Gesamtfaktorproduktivität auswirkte, da nicht alle Produktionsfaktoren verwendet wurden.

      Die im Produktionsprozess erzielten Einkommen wurden auf die Lieferanten der beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verteilt und von diesen für Konsum und Investitionen verausgabt. Tendenziell reduzierte sich dabei der Einkommensanteil der Arbeitnehmer im Zeitablauf, d. h. die unbereinigte Lohnquote sank. Zwischen 1871 und 1913 entfiel im Schnitt ein Viertel des Volkseinkommens auf das Kapitaleinkommen und dementsprechend drei Viertel auf das Arbeitseinkommen. Diese Quoten waren freilich im Zeitablauf nicht konstant. Während der 1870er und 1880er Jahre hatten die Kapitaleinkommensempfänger zunächst lediglich 21,6 Prozent des Volkseinkommens bezogen – und die Empfänger von Arbeitseinkommen dementsprechend 78,4 Prozent. In den darauffolgenden Dekaden bis zum Ersten Weltkrieg stieg dann der Anteil des Kapitaleinkommens |44◄ ►45| auf 27,9 Prozent des Volkseinkommens an. Der Anteil des Arbeitseinkommens ging entsprechend auf 72,1 Prozent zurück. Neben der funktionalen Einkommensumverteilung dürfte es vermutlich auch zu einer personellen Einkommensumverteilung gekommen sein, da das Kapitaleinkommen tendenziell personell stärker konzentriert ist. Die Umverteilung von Arbeits- zu Kapitaleinkommen war besonders im gewerblichen Sektor ausgeprägt, sodass dort der Verfall der Profitrate aufgehalten werden konnte. Im sekundären Sektor der deutschen Volkswirtschaft stieg der Kapitalkoeffizient, der das Verhältnis von Kapitaleinsatz zu Nettowertschöpfung misst, von 2,4 im Durchschnitt der Jahre von 1871 bis 1890 auf 3,3 im Durchschnitt der Jahre von 1891 bis 1913 an. Dies impliziert, dass die Kapitalproduktivität, also der reziproke Wert des Kapitalkoeffizienten, von 41 auf 31 Prozent gefallen ist. Die sinkende Kapitalproduktivität würde zu einer sinkenden Profitrate führen, wenn die funktionale Einkommensverteilung stabil bliebe. Da sich die funktionale Einkommensverteilung in der Industrie besonders stark zugunsten des Faktors Kapital verschob – hier betrug der Anteil des Kapitaleinkommens am Gesamteinkommen im Durchschnitt der Jahre 1871 bis 1889 nur 12,1 Prozent, im Durchschnitt der Jahre 1890 bis 1913 hingegen 24,9 Prozent – konnte die sinkende Profitrate aufgefangen werden.

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      |45◄ ►46|

      Nachdem Einkommen durch den Produktionsprozess entstanden und auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verteilt worden sind, können sie nun von den Einkommensbeziehern verwendet werden. Die Einkommensverwendung umfasst den privaten und öffentlichen Konsum sowie die Nettoinvestitionen und den Nettoexport. Da die drei ersten Größen faktisch die gesamte Verwendung umfassen, wird nur ihre Entwicklung umrissen. Es zeigt sich, dass zwischen 1871 und 1913 durchschnittlich rund 79 Prozent des Volkseinkommens für den privaten Konsum ausgegeben wurden, während lediglich 13 bzw. acht Prozent auf den öffentlichen Konsum bzw. die Nettoinvestitionen entfielen. Im Zeitverlauf nahm, analog zum relativen Bedeutungsverlust des Arbeitseinkommens, die Bedeutung des privaten Konsums ab. Sein Anteil verringerte sich in der Periode von 1890 bis 1913 gegenüber dem Zeitraum von 1871 bis 1889 um drei Prozentpunkte auf rund 77,6 Prozent. Dieser Rückgang des privaten Konsums wurde größtenteils durch die Bereitstellung öffentlicher Güter – dazu gehören beispielsweise die Sozialversicherung, aber auch das Militär – aufgefangen. Der Anteil des öffentlichen Konsums am Volkseinkommen wuchs von rund 11,3 Prozent auf 14,5 Prozent. Die dritte wichtige Komponente der Einkommensverwendung, die Nettoinvestitionen, blieb demgegenüber fast konstant: Ihr Anteil stieg von 7,3 Prozent im Schnitt der Jahre 1871/89 auf 8,1 Prozent im Mittel der Jahre von 1890 bis 1913.

      Abschließend gilt es nun, die Entwicklung des Sozialprodukts während des Ersten Weltkriegs