Telegraph-Affäre, als auch an einem innenpolitischen Thema, der Reichsfinanzreform von 1909. Kernstück dieser Reform war ein Reichserbschaftsteuergesetz, das der Deutschkonservativen Partei zu eigentums-, der Zentrumspartei zu familienfeindlich war. Dieser Kernbestandteil der Reichsfinanzreform scheiterte. Bülow wurde daraufhin im Juli 1909 aus seinem Amt entlassen.51
Der letzte Friedens- und erste Kriegskanzler des Deutschen Reichs war der Verwaltungsbeamte Theobald von Bethmann-Hollweg, der bis Juli 1917 im Amt bleiben sollte. Unter seiner Kanzlerschaft spitze sich die innen- wie außenpolitische Lage des Reichs zu. Außerdem sah er sich ab 1912 einem Reichstag gegenüber, der jedes Regieren praktisch unmöglich machte, denn mit den Wahlen im Januar 1912 waren die Sozialdemokraten zur stärksten Reichstagsfraktion geworden. Rechnerisch war eine staatstragende Mehrheit nur noch möglich, wenn |29◄ ►30| Freikonservative, Deutschkonservative, Nationalliberale sowie Linksliberale und Zentrum einer Regierungsvorlage zustimmten.52 Dies war praktisch unmöglich, sodass nur noch eine große innenpolitische Entscheidung vor dem Krieg fiel: Im April 1913 stimmte der Reichstag einer Heeresvorlage zu, in deren Folge stufenweise die Friedenspräsenzstärke des Heeres vermehrt werden konnte. Indirekt unterstützten sogar die Sozialdemokraten diese Politik. Sie lehnten zwar die Heeresvorlage ab, hatten aber zuvor die zur Finanzierung notwendigen Steuergesetze angenommen.53
Während des Krieges galt in Deutschland der so bezeichnete Burgfriede –d. h., alle im Reichstag vertretenen Parteien, die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände sollten ihre politischen Divergenzen während des Krieges aussetzen. Bereits am 2. August 1914 verzichteten die Gewerkschaften auf Streiks während des Krieges und stellten alle schwebenden Lohnkämpfe ein. Einen Tag später beschloss die Reichstagsfraktion der Sozialdemokraten mit überwältigender Mehrheit, den beantragten Kriegskrediten zuzustimmen, und nahm dabei die Spaltung der Partei in Kauf. Dafür erwarteten die (Mehrheits-)Sozialdemokraten und Gewerkschaften für die Zeit nach dem Krieg die Anerkennung als staatstragende Partei. Diese Rolle wollte ihnen die herrschende Elite nicht zugestehen. Die Entscheidung wurde freilich auf die Zeit nach Kriegsende vertagt. Bis zu seinem Sturz im Juli 1917 konnte Bethmann-Hollweg den innenpolitischen Stillstand mehr oder weniger aufrechterhalten. Erst die vom Reichstag verabschiedete Friedensresolution führte zu einem entscheidenden Konflikt zwischen Reichstag, Reichskanzler und Oberster Heeresleitung. Diese drängte auf die Entlassung Bethmann-Hollwegs und ersetzte ihn durch eine Reihe von blassen Kanzlern: Georg Michaelis (Juli bis November 1917), Graf Georg von Hertling (November 1917 bis September 1918) und schließlich Prinz Max von Baden (Oktober und November 1918). Die tatsächliche Regierungsgewalt verlagerte sich zunehmend zur Obersten Heeresleitung, insbesondere nachdem im August 1916 Paul von Hindenburg an ihre Spitze rückte.54 Das Kaiserreich war von einer konstitutionellen Monarchie zu einer Militärmonarchie geworden.
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III. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft aus nationaler Perspektive
Zum 25-jährigen Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm II. widmete eine Reihe prominenter Autoren dem Staatsoberhaupt eine Festschrift, in der auf die Errungenschaften während der bisherigen Regentschaft des Monarchen zurückgeblickt wird. Der von Karl Helfferich verfasste Abschnitt über Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913 erschien bald darauf auch als gesonderte Monografie, welche bis 1917 sieben Auflagen erreichte.55 Helfferichs Werk markiert damit den prominenten Höhepunkt einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts versuchten, das deutsche Volkseinkommen zu beziffern: Bereits 1846 veröffentlichte der Leiter des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, eine Abhandlung über die Höhe des preußischen Volkseinkommens .56 Ihm folgten – um nur die wichtigsten zu nennen – 1875 Ernst Engel,57 1878 Adolf Soetbeer58 und 1887 Hermann Losch.59 Diese Arbeiten belegen ein reges Interesse an der quantitativen Darstellung der Entwicklung der deutschen Wirtschaft in der damaligen Zeit. Im modernen Sinne blieben sie jedoch Stückwerk, da das heute verwendete Konzept zur Messung von Produktion und Einkommen, das Bruttonationaleinkommen, damals noch nicht bekannt war. Die Autoren des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts stützten sich bei ihren Schätzungen vornehmlich auf die Einkommensteuerstatistik. Die moderne volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nimmt dagegen im Bereich der Gütererzeugung ihren Ausgang. Die Steuerstatistik blieb jedoch lange Zeit die dominierende Quelle für Volkseinkommensberechnungen, auch wenn die Schätzungen aufgrund von Steuerrechtsänderungen, Steuerfreibeträgen und Steuerhinterziehung Niveau und Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Leistung nur unvollständig abbilden. Gleichwohl griff auch die erste amtliche Schätzung des Deutschen Volkseinkommens vor und nach dem Kriege, vom Statistischen Reichsamt im Jahre 1932 vorgelegt, auf diese Quelle zurück.60 Wenige Jahre später nahm indes das Reichsamt für wehrwirtschaftliche Planung erstmals einen im Produktionsbereich der deutschen Volkswirtschaft verankerten Industriezensus vor,61 der auch für die |31◄ ►32| spätere wirtschafthistorische Forschung und die amtliche Statistik von zentraler Bedeutung war, da der nächste Zensus erst Mitte der 1950er Jahre durchgeführt wurde.
Im Gegensatz zur älteren amtlichen Statistik, die ein Volkseinkommen ermittelte, verwendet die moderne amtliche Statistik das Bruttosozialprodukt (BSP) –in der Sprache der amtlichen Statistik als Bruttonationaleinkommen bezeichnet – oder das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maß für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes. Das BSP basiert auf dem Inländerprinzip, d.h. es berücksichtigt die wirtschaftliche Leistung aller im Inland ansässigen Wirtschaftssubjekte, wohingegen das BIP auf dem Inlandskonzept beruht. Das BIP berücksichtigt alle im Inland erbrachten Leistungen. Zieht man daher vom BIP die an Ausländer gezahlten Einkommen ab und addiert die aus dem Ausland empfangenen Einkommen, so erhält man das BSP. Der Wert der in einem Jahr erbrachten wirtschaftlichen Leistung eines Landes kann von der Entstehungs-, Verwendungs- und Verteilungsseite berechnet werden. Alle drei Rechenwege sollten dabei zu einem identischen Ergebnis führen. Die Entstehungsrechnung ermittelt das BIP, indem vom Wert der gesamtwirtschaftlichen Produktion der Wert aller während der Produktion verbrauchten Vorleistungsgüter abgezogen wird. Die Verwendungsrechnung ermittelt das BIP, indem die Ausgaben für privaten und staatlichen Konsum, Nettoinvestitionen, Abschreibungen und Exporte addiert und anschließend die Importe subtrahiert werden. Die Verteilungsrechnung schließlich bildet zunächst die Summe von Arbeitsentgelten, Unternehmens- und Vermögenseinkommen, um zum Volkseinkommen (Nettosozialprodukt zu Faktorpreisen)62 zu gelangen. Zu diesem werden die indirekten Steuern und Importabgaben addiert sowie die Subventionen subtrahiert, womit das Nettosozialprodukt (NSP) zu Marktpreisen vorliegt. Zu diesem müssen schließlich noch die Abschreibungen auf den volkswirtschaftlichen Kapitalstock addiert werden, um das BSP zu erhalten. Die folgende Abbildung A2 verdeutlicht die Zusammenhänge.
Ein Blick in die historische Statistik offenbart, dass die zur Berechnung von BSP und BIP notwendigen Daten nur teilweise verfügbar sind, weshalb weit reichende Annahmen getroffen werden müssen, um aus dem vorhandenen Datenmaterial eine Schätzung des Sozialprodukts zu erhalten. In Abbildung A2 sind diejenigen Größen, die von der damaligen amtlichen Statistik erhoben wurden, grau unterlegt. Bereits die empirischen Wirtschaftsforscher des 19. Jahrhunderts stellten fest, dass vor allem Angaben aus der Steuerstatistik genutzt werden können, um das Volkseinkommen zu berechnen. Dementsprechend nutzte auch die |32◄ ►33| erste wirtschaftshistorische Arbeit diese Quelle, um das Volkseinkommen zu ermitteln. 63 Dieses Vorgehen hat jedoch einen entscheidenden methodischen Nachteil: Die ermittelte Zeitreihe des Volkseinkommens kann mit Hilfe der Steuerstatistik nur in laufenden Preisen ermittelt werden, da zur Berechnung eines Sozialproduktdeflators die Verwendungsstruktur des Sozialprodukts bekannt sein muss, weil diese als Wägungsschema für den Preisindex verwendet wird. Der Sozialproduktdeflator wird berechnet, indem für ein bestimmtes Jahr Preise und Mengen aller im Sozialprodukt enthaltener Güter ermittelt werden. In den Folgejahren wird das Güterschema konstant gehalten, aber mit den jeweils geltenden Preisen multipliziert. Daher muss für die Berechnung des Sozialproduktdeflators die Verwendungsstruktur des Sozialprodukts für mindestens ein Jahr bekannt sein. Erst Walther G. Hoffmanns Epoche machendes Werk über Das