des deutschen Nettosozialprodukts weist für die Jahre 1871 bis 1913 einen Anstieg des Sozialprodukts von 17,3 auf 53,7 Milliarden Mark aus. Die durchschnittliche jährliche reale Wachstumsrate betrug daher 2,7 Prozent. Da sich im gleichen Zeitraum die Bevölkerung von 41 auf 67 Millionen79 und die Zahl der Beschäftigten von 17,3 auf 31 Millionen80 erhöhte, betrug die durchschnittliche Wachstumsrate des realen Sozialprodukts pro Kopf bzw. der Arbeitsproduktivität 1,5 bzw. 1,3 Prozent jährlich. Das jährliche Wirtschaftswachstum erhöhte sich dabei |38◄ ►39| von Dekade zu Dekade. Während der 1870er Jahre wuchs die deutsche Wirtschaft im Schnitt um 2,1 Prozent jährlich, während der 1880er Jahre um 2,8 Prozent, während der 1890er Jahre um 3,0 Prozent und nach der Jahrhundertwende um 3,7 Prozent. Die durchschnittlichen Wachstumsraten sowohl des Pro-Kopf-Einkommens als auch der Arbeitsproduktivität weisen ein identisches Muster auf.
Abbildung A5: Kompromissschätzung des Nettosozialprodukts zu Markpreisen in Milliarden Mark (in Preisen von 1913) sowie absolute Differenz zwischen der höchsten und niedrigsten vorliegenden Schätzung gemäß der Angaben von Hoffmann, Wachstum bzw. Hoffmann / Müller, Volkseinkommen (Alt) und der hier korrigierten Schätzungen (Neu).
Tabelle T1 fasst die zentralen Kennzahlen der wirtschaftlichen Entwicklung für die Jahre 1871 bis 1913 zusammen. Es zeigt sich, dass sich die Wachstumsdynamik, gemessen anhand des Einkommens pro Kopf oder anhand des Einkommens pro Beschäftigten, beschleunigt hat. Des Weiteren wuchs das Einkommen pro Kopf rascher als die Arbeitsproduktivität. Dies kann mehrere Ursachen haben. Beispielsweise kann die Beschäftigungsquote zugenommen haben oder es könnten Arbeitskräfte von Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität in Sektoren mit hoher Arbeitsproduktivität gewandert sein. Derartige Strukturverschiebungen vom Agrarsektor zum Industriesektor waren generell ein Kennzeichen der Industrialisierung. Weiterhin könnte verstärkter Kapitaleinsatz, beispielsweise die vermehrte Verwendung dampfgetriebener Maschinen, eine höhere Arbeitsproduktivität verursacht haben. Schließlich könnte auch der allgemeine technische Fortschritt zu einer höheren Arbeitsproduktivität geführt |39◄ ►40| haben. Die Wirkungen von Strukturwandel, Kapitalintensivierung und technischem Fortschritt werden im Folgenden beschrieben.
Tabelle T1: Kennzahlen des Wachstums
Quelle: Eigene Berechnungen.
Abbildung A6 zeigt die Arbeitsproduktivität in den vier Sektoren Landwirtschaft und Fischerei, Bergbau, Industrie und Handwerk sowie öffentliche und private Dienstleistungen für die Jahre 1875 bis 1913. Der Dienstleistungssektor wies durchweg das höchste Niveau der Arbeitsproduktivität, die Landwirtschaft dagegen immer das niedrigste Niveau auf. Das Niveau der Arbeitsproduktivität in Bergbau und Industrie lag zwischen diesen beiden Polen, wobei der prozentuale Produktivitätsvorsprung dieser Sektoren gegenüber der Landwirtschaft zwischen Gründung des Kaiserreichs und Kriegsausbruch bei circa 90 Prozent verharrte. Auch der Produktivitätsnachteil von Bergbau und Industrie gegenüber dem Dienstleistungssektor blieb im Großen und Ganzen konstant. In wirtschaftlicher Hinsicht bedeutet dies, dass die Wanderung von Arbeitskräften vom traditionellen Agrarsektor hin zu den modernen Industrie- und Dienstleistungsbranchen mit einem gesamtwirtschaftlichen Wachstum der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität einherging.
Tatsächlich entwickelte sich die Erwerbsstruktur zu Lasten der Landwirtschaft, wie Tabelle T2 ausweist. Zur Reichsgründung war etwa die Hälfte aller Beschäftigten in Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei tätig. Erst im letzten Friedensjahr waren mehr Menschen in Industrie und Handwerk als in der Landwirtschaft beschäftigt. Auch der Dienstleistungssektor konnte seine Bedeutung ausbauen und erhöhte seinen Beschäftigtenanteil. Das stärkste Wachstum wies jedoch der Bergbau auf, der seinen Beschäftigtenanteil ungefähr verdoppeln konnte. Gleichwohl blieb er mit einem Beschäftigungsanteil von weniger als drei Prozent der mit Abstand kleinste Bereich.
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Abbildung A6: Die Arbeitsproduktivität in den vier Sektoren Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft; Bergbau; Industrie und Handwerk; öffentliche und private Dienstleistungen; in Mark (Preise von 1913). Quellen: Nettowertschöpfung in Bergbau und Industrie, siehe Text; Nettowertschöpfung der Landwirtschaft aus Hoffmann, Wachstum, S. 331–332; Nettowertschöpfung des Dienstleistungssektors als Residuum. Beschäftigtenzahlen aus Hoffmann, Wachstum, S. 204–206.
Man stellt somit einen Wandel der Erwerbsstruktur zugunsten von Sektoren mit einer hohen Arbeitsproduktivität fest. Die Arbeitnehmer wanderten von der Landwirtschaft in die Industrie und den Dienstleistungssektor. Zudem gewannen mit Bergbau und Industrie Sektoren mit einem hohen Wachstum der Arbeitsproduktivität an Bedeutung. Über den gesamten Zeitraum 1871 bis 1913 steigerte sich die Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft jährlich um durchschnittlich 1,1 Prozent, im Bergbau um 1,6 Prozent, in der Industrie um 1,7 Prozent und im Dienstleistungsbereich um 1,2 Prozent. Gewichtet man diese Wachstumsraten mit dem jeweiligen Beschäftigungsanteil einer Branche im Jahre 1871 bzw. 1913, dann ergibt sich ein durchschnittliches Wachstum der Arbeitsproduktivität von 1,29 bzw. 1,34 Prozent. Dass das durchschnittliche Wachstum der Arbeitsproduktivität höher ausgewiesen wird, wenn man ein auf Beschäftigtenzahlen von 1913 basiertes Gewichtungsschema wählt, zeigt, dass im Durchschnitt Sektoren mit einem relativen hohen Wachstum der Arbeitsproduktivität ihren Beschäftigungsanteil ausbauten. Der Strukturwandel trug insofern positiv zum Wirtschaftswachstum bei.81
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Tabelle T2: Beschäftigungsstruktur
Quelle: Eigene Berechnungen.
Ein Instrument zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Strukturwandel und Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ist die Anteilsverschiebungsrechnung. 82 Mit dieser kann man den Anstieg der Arbeitsproduktivität während eines Zeitraums in einen statischen, einen dynamischen und einen intrasektoralen Effekt zerlegen. Der statische Effekt misst die Auswirkungen der Verschiebung von Arbeitskräften von einem Sektor in einen anderen Sektor, während der dynamische Effekt die Interaktionseffekte zwischen Arbeitskräfteallokation auf die verschiedenen Sektoren und Veränderungen der Arbeitsproduktivität innerhalb dieser Sektoren misst. Der intrasektorale Effekt gibt an, inwiefern Produktivitätszuwächse innerhalb der Sektoren zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum der Arbeitsproduktivität beitragen. Der statische Effekt hat ein positives Vorzeichen, wenn der Anteil der Arbeitskräfte, die in Sektoren mit einem überdurchschnittlichen Niveau der Arbeitsproduktivität beschäftigt werden, zunimmt. Der dynamische Effekt ist hingegen positiv, wenn Sektoren, die ein relativ hohes Wachstum der Arbeitsproduktivität aufweisen, ihren Beschäftigtenanteil im Zeitablauf ausdehnen. Mathematisch lässt sich dieses Konzept wie folgt beschreiben: Bezeichnet man mit Yt und Lt die Nettowertschöpfung bzw. den Arbeitseinsatz in Periode t und mit dem Zeichen Δ die Veränderung einer Variable zwischen zwei Zeitpunkten 0 und t, dann lässt sich die Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität, Δ(Y/L), als die Summe aus (Yi,0/Li,0)*Δ(Li/L), Δ(Yi/Li)*Δ(Li/L) und L0*Δ(Yi/Li) schreiben, wobei i ein Index für den Sektor – Landwirtschaft, Bergbau, Industrie, Dienstleistungen – ist. Der erste Teil der Summe, der statische Verschiebungseffekt, ergibt sich aus dem Produkt